Die christlichen Kirchengemeinden hatten zum Jahrestag des Überfalls von Putins Armeen auf die Ukraine am 24.02.2023 zum Friedensgebet auf den Lingener Marktplatz eingeladen. Zum Abschluss sprach der stellvertretende Vorsitzende des Forums, Dr. Walter Höltermann. Er sagte:

Vor genau einem Jahr ist der Krieg zu uns gekommen und seitdem ist er unter uns. Jeden Morgen gelangt er durch die Zeitung auf unserem Frühstückstisch und am Abend durch das Fernsehen in unsere Wohnzimmer. Es sind immer die gleichen Bilder: Tote, leidende Menschen, zerstörte Wohnungen, beschädigte Krankenhäuser, zerstörte Infrastrukturen sowie Soldaten und Kriegsgerät. Das erste Opfer dieses Angriffskrieges war die Wahrheit: Russland begründete ihn mit der Notwendigkeit der Entnazifizierung und Demilitarisierung der Ukraine um einen Genozid zu beenden. Das Wort Genozid in einem Kontext mit der Ukraine erinnert uns an die dort stattgehabte Vernichtung der Juden während des zweiten Weltkriegs und wirkt mehr als verstörend, denn Präsident Selenskyj ist Jude. Seitdem sind 12 Monate vergangen, sind allein unter der Zivilbevölkerung über 8.000 Tote und etwa 14.000 Verletzte zu beklagen, sind mehr als 1 Millionen geflüchtete Ukrainer zu uns nach Deutschland gekommen. Doch der Krieg geht weiter. Die Bilder und die Nachrichten machen mich fassungslos, ohnmächtig und manchmal auch wütend. Die unterschiedlichen und zunehmend kontroversen Auffassungen innerhalb unserer Gesellschaft weisen auf das Dilemma von Solidarität mit dem ukrainischen Volk und der Verlängerung des Krieges hin. Umso mehr frage ich mich, wann wird es Frieden geben, wann und unter welchen Bedingungen werden die Waffen schweigen?

Fotos: fwp

Der Journalist Klaus Prömpers hat 2015 ein Buch mit dem Titel „So geht Frieden“ geschrieben. Prömpers berichtet darin über Menschen des öffentlichen Lebens, denen er begegnet ist und wie diese um den Frieden gerungen haben. Einer der Personen die er vorstellt, ist Kardinal Joseph Höffner. Kardinal Höffner wurde 2003 vom Jerusalemer Zentrum Yad Vashem zum „Gerechten unter den Völkern“ erhoben. Zusammen mit seiner Schwester hat er während des 2. Weltkriegs ein junges jüdisches Mädchen und eine jüdische Frau vor dem Zugriff der Gestapo versteckt. Unter der Leitung des Kardinals Höffner hat die Deutsche Bischofskonferenz 1983 ein Hirtenwort mit dem Titel „Gerechtigkeit schafft Frieden“ herausgegeben. In diesem Papier heißt es auch angesichts der Gefahr einer nuklearen Kriegsführung wörtlich: „Heute ist der Krieg weniger ein Mittel, um politische Ziele zu erreichen. Denn niemals sind die Folgen des Krieges so offenbar gewesen, und niemals war so klar, dass jeder mögliche Gewinn in keinem Verhältnis zu den Opfern stehen würde.“ (…) Klaus Prömpers kommt in seinem Buch zu der Erkenntnis: Frieden schaffen ist ein komplexer Prozess und die Suche danach ist mühsam. Doch trotz mancher Ernüchterung, so Prömpers, kennzeichnet alle der von ihm beschriebenen Personen der Optimismus, dass Veränderung möglich ist, wenn man wirklich will.

Auch wir können uns von diesem Optimismus angesprochen fühlen. Auch wir können Antworten auf Krieg, Hass und Verachtung finden und müssen diese nicht einfach nur an „die Politik“ delegieren. Doch wie können wir das tun?

Sprechend und handelnd schalten wir uns in die Welt der Menschen ein, die existierte, bevor wir in sie geboren wurden“ schrieb Hannah Arendt in der Vita Activa, „und diese Einschaltung“, so Arendt weiter, „ist wie eine zweite Geburt, in der wir die nackte Tatsache des Geborenseins bestätigen, gleichsam die Verantwortung dafür auf uns nehmen.“

Wir dürfen uns nicht wehrlos und sprachlos machen lassen. Wir können sprechen und handeln. Wir können Verantwortung auf uns nehmen. Wir können, so die Publizistin Carolin Emcke, sprechend und handelnd eingreifen in diese von Krieg, Hass, Fanatismus, Gewalt und Diskriminierung geprägte Welt. Doch dazu brauchen wir, so Frau Emcke weiter, Vertrauen in das, was uns als Menschen ausmacht: die Begabung zum Anfangen. Wir können hinausgehen und uns einschalten in diese Welt. Doch dieses Einschalten braucht Bilder und Vorbilder, die uns zeigen und erinnern, was und wer wir sein können.

Ich denke in diesem Zusammenhang an Werner Remmers, der sich als Präsident des Maximilian-Kolbe-Werkes erfolgreich für die Aussöhnung mit dem polnischen Volk engagiert hat. Sein Eintreten für den dauerhaften Bestand der Westgrenze Polens und für die Anerkennung der großen Schuld, die Deutschland gegenüber Polen auf sich geladen hat, wurde er als „Strolch“, „Wirrkopf“ und „Bengel“ beschimpft. Dennoch ging er seinen Weg der Aussöhnung konsequent weiter.

Ich denke in diesem Zusammenhang an Fadi Dekidek, einem Rettungssanitäter in Jerusalem. Herr Dekidek ist Palästinenser und er wurde zu einem Notfall gerufen. Ein palästinensischer Terrorist hatte mit einer Waffe wild um sich geschossen und zahlreiche Menschen getötet sowie verletzt. Dekidek ist Araber aus Ost-Jerusalem und jemand aus seinem Volk hat diesen Terroranschlag ausgeführt. Herr Dekidek fragt nicht nach der Ethnizität, er behandelt Juden, er rettet Juden. Für ihn ist das kein Widerspruch. Im Gegenteil: „Ich bin sicher“, so sagt er, „wir verrichten eine heilige Arbeit, als ein Beispiel für die ganze Welt.“

Ich denke in diesem Zusammenhang an ein Ereignis in Stockholm, das sich ebenfalls vor einigen Wochen ereignet hat. Dort hatte ein Rechtsextremer ein Koran-Exemplar verbrannt und sich dazu auf seine Meinungsfreiheit berufen. Im Gegenzug wollte ein Ägypter in Schweden eine Thorarolle verbrennen. Er zeigte dieses den schwedischen Behörden an und diese nahmen daran keinen Anstoß, da dieses durch die Meinungsfreiheit gedeckt ist. Führenden Vertretern der muslimischen Community ist es jedoch gelungen, den Mann von seinem Vorhaben abzubringen. Diese argumentierten, dass eine solche Tat dem Islam widerspreche. Sie sagten dem Mann, dass die jüdische Gemeinde in Schweden ein enger Partner ist und sich für Muslime engagiert. Er könne deshalb nicht einfach die religiösen Gefühle von Juden verletzen, um ein Zeichen zu setzen.

Ich denke in diesem Zusammenhang an die Aktion Sühnezeichen Friedensdienste. Das Anliegen dieser Organisation ist es, zuhörend und mithelfend für von Deutschen begangene Verbrechen des Nationalsozialismus um Vergebung zu bitten und für das heutige Zusammenleben der Menschen Verantwortung zu übernehmen. Dieses Anliegen wurde in Prag von Artur Radvansky gefördert, der dort als Verwaltungsleiter des Neuen Jüdischen Friedhofs tätig war. Artur Radvansky kam 17-jährig als politischer Häftling in das KZ Buchenwald. Sein Weg führte ihn über Ravensbrück und Sachsenhausen nach Auschwitz und zuletzt noch nach Mauthausen und Ebensee. Sechs Jahre träumte er von der Befreiung und von der Rückkehr nach Hause. Als der erste amerikanische Panzerwagen ins befreite KZ Ebensee rollte, wusste Artur Radvansky, dass es für ihn kein zu Hause mehr gab. Sein Vater war im KZ Buchenwald in seinen Armen an Hunger gestorben. Und nach dem, was er in Auschwitz gesehen hatte, ahnte er, dass auch seine Mutter und seine jüngeren Brüder ermordet worden waren. Er stand da, ganz allein, mit leeren Händen, nur im Häftlingsanzug, 23 Jahre alt und musste wieder anfangen zu leben. Er hatte viele Fragen und eine davon war, ob er den Tätern verzeihen könnte. Vergessen könne er nicht, war seine Antwort, aber wenn er sich überzeugen könnte, dass ein Täter bereut, was er getan hat, dann könnte er ihm die Hand reichen. (…) Artur Radvansky hat uns wie Erna de Vries, wie Ruth Foster-Heilbronn und wie Bernhard Grünberg vorgelebt, wie Frieden geht: durch Versöhnung.

Im öffentlichen Diskurs wurde in den letzten Wochen und Monaten im Zusammenhang mit dem Angriff auf die Ukraine wiederholt auf die Verteidigung unserer Werte hingewiesen. Freiheit und Demokratie als Garanten für den Frieden. Wir dürfen uns allerdings nicht nur als freie demokratische Gesellschaft bezeichnen, wir müssen es dann auch sein. Freiheit ist nicht etwas was man besitzt, sondern ein unabgeschlossenes Projekt. Demokratie ist keine statische Gewissheit, sondern eine dynamische Übung im Umgang mit Ungewissheiten und Kritik. Eine freie demokratische Gesellschaft ist etwas, was wir immer wieder lernen und einüben müssen, im gemeinsamen Sprechen und Handeln. Wir müssen es einüben im wechselseitigen Respekt vor der Vielfalt der Zugehörigkeiten und den individuellen Einzigartigkeiten.

Und nicht zuletzt müssen wir es einüben im gegenseitigen Zugestehen von Schwächen und im Verzeihen. Das ist mühsam und es wird dabei immer wieder zu Konflikten zwischen den verschiedenen Überzeugungen und Handlungsweisen kommen. Es ist schwer, die jeweiligen Bezüge und Orientierungen in eine gerechte Balance zu bringen. Doch es ist möglich. Dazu braucht es Haltung, Mut und die Bereitschaft, die Blickrichtung zu ändern um einen Perspektivwechsel zu ermöglichen.

Frieden ist möglich! Und so rufe ich Ihnen zu: „Gehen wir hin und bringen wir den Frieden“.