Die andauernde Corona – Pandemie erforderte eine besondere Form des Gedenkens an die Novemberpogrome 1938. Der katholische Pfarrer Dr. Antony Kallarakkal und die evangelisch-lutherische Pastorin Dr. Helen-Kathrin Treutler feierten 82 Jahre nach der Pogromnacht in der Lingener St. Bonifatius-Kirche gemeinsam mit etwa vierzig TeilnehmerInnen einen christlich-ökumenischen Gedenkgottesdienst. Schülerinnen des Gymnasiums Georgianum unter Leitung ihrer Lehrerin Judith Lühle erinnerten in beeindruckender Weise an die Ausgrenzung der Juden in Lingen. Die ausgewählten Zitate verdeutlichten, dass sich die Abiturientinnen akribisch mit den Schicksalen der von den Nazis verfolgten und ausgegrenzten Mitbürgerinnen und Mitbürgern auseinandergesetzt hatten.
Die durchaus politische Predigt hielt Pastorin Treutler, die zunächst die Dimension des Novemberpogroms in Erinnerung rief. An die Schülerinnen gerichtet: „ Sie, die SchülerInnen des Georgianums haben sich die Frage gestellt, warum? Warum müssen wir uns diese Zahlen heute wieder vor Augen führen? Warum sollen wir heute noch an etwas erinnern, warum diese Gedenkveranstaltung ?(…) Sie (…) haben Ihre Antworten gefunden, warum man es doch tun sollte. Ich bin ganz beeindruckt von dem, was Sie selbst vorbereitend verfasst und hier im Gottesdienst gesagt haben. Ihre Überlegungen sind so weitreichend und weitsichtig.“
Theologisch deutet die Predigerin dann drei Bibelstellen. Judentum und Christentums seien vergleichbar mit einem Apfelbaum, dem Birnenzweige eingepfropft seien. „Paulus selbst vergleicht die Christen mit eben diesen eingepfropften Ästen an dem Baumstamm des Judentums. Wir sind also in, so kann man es wohl sagen, in direkter Astnachbarschaft mit Menschen jüdischen Glaubens. Und Paulus schreibt noch einen Satz dazu in dem Brief an die Römer(…) ‚Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich.‘ (…)
Das, was den Christenzweig hält, sind seine Wurzeln im Judentum, es ist der Baumstamm des Judentums. Die jüdischen Traditionen, das Judentum an sich trägt uns. Denn: Jesus selbst war Jude. Paulus war Jude. Viele Jünger ebenfalls. Alle Vorankündigungen für die Geburt Jesu als Messias stehen in der Heiligen Schrift des Judentums. Ohne Erstes Testament, (…) der Thora, kein zweites, kein Neues Testament. Das Christentum gibt es nur durch das Judentum. Stirbt das jüdische Leben, so stirbt das christliche Leben.“
Im Predigttext wird weiter klar benannt, dass die Taten der Nazis und das Schweigen der Mehrheit nicht umkehrbar sind. „Aber was wir für Familie Hanauer, Familie Grünberg, Familien Cohen und die weiteren Lingener jüdischen Familien noch tun können ist: Das Unrecht klar beim Namen benennen, das ihnen geschah. (…) Ich möchte sie aber nicht als Opfer nur sehen. Denn für mich hat dieser ‚Opfer‘-Begriff ein Geschmäckle, wie man es im Süddeutschen sagen würde. Es heißt auch immer: Jemandem wird ein Stempel aufgedrückt. Aus diesem Grund heißt gedenken für mich: Familie Markreich, Familie Herz aus Lingen ein Stück weit ihre Menschenwürde hochhalten. Gedenken heißt, sie als Erinnerung am Leben halten. Dieses müssen wir wachhalten, mit Worten, und Taten. Denn wenn wir schweigen, dann lassen wir die Täter als Gewinner dastehen.
Gedenken heißt für mich versprechen: mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit aller Kraft gegen antijudaistische und antisemitische Hetze einzutreten.“
Helen Treutler findet, dass sich Jesus ganz in die Tradition der jüdischen Überlieferung begibt, wenn er zitiert „ ‚Du sollt den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft. ‚ (…). Und das zweite, das auch ein Gebot im Judentum ist: „Du sollt deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (…). Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst. Das heißt auch: Füreinander eintreten. Für einen anderen Menschen dieselben Grundrechte geltend machen, wie für einen selbst. Ihn zu verteidigen, wenn andere ihn beschimpfen. Wenn andere schlecht über sie reden, dagegenhalten. Kante zeigen, den Mund aufmachen, wenn andere anfangen, Personengruppen die Menschenwürde abzusprechen. Wenn FakeNews verbreitet werden, in die Tastatur oder auf dem Handy tippen. Wenn Aufkleber mit rechten Sprüchen an Laternenmasten kleben, sie mit den eigenen Fingernägeln abknibbeln, damit ihr Anblick nicht ‚normal‘ oder gewöhnlich wird. ‚Liebe Deinen Nächsten‘, Und: ‚Du sollst Gott von ganzem Herzen lieben‘ heißt für mich: Verteidige das Grundrecht anderer. Stelle Dich auch schützend vor sie, im wörtlichen und übertragenden Sinn: Tritt für sie ein: An der Schule, auf der Straße, in der Fußgängerzone, im Geschäft und im Bus.“