Dieter Krone: „Nicht wegschauen“

Lingen. Der 9. November 1938 brachte den mörderischen Judenhass der Nazis zum offenen Ausdruck. Auf Anordnung von Reichspropagandaminister Goebbels überfielen SA- Horden jüdische Geschäfte und Privatwohnungen, zerstörten Synagogen wie die in Lingen, vergewaltigten Frauen und ermordeten Hunderte Menschen. Aus Lingen wurden wohlhabende jüdische Männer ins KZ Buchenwald verschleppt, um sie ausrauben zu können.

An die Novemberpogrome wurde am Gedenkort Jüdische Schule in diesem Jahr am Nachmittag gedacht, der Gedenktag fiel auf einen Sonntag. Musikalisch umrahmt wurde die Veranstaltung von den Violinisten Heike und Steffen Kersten.

Simon Göhler, Vorsitzender des Forum Juden-Christen, ging in seiner Begrüßungsrede darauf ein, dass Erinnerung allein nicht ausreiche. Jüdische Menschen müssten heute gegen zunehmenden Hass unterstützt werden. Göhler: „Die Vergangenheit ist nicht vorbei. Der Antisemitismus ändert nur seine Sprache – aber nicht seinen Hass. Deshalb ist es unsere gemeinsame Aufgabe – hier, heute, in Lingen – zu widersprechen, zu erinnern und zu handeln.“

In diesem Sinne äußerte sich auch Oberbürgermeister Dieter Krone: „In Zeiten, in denen Juden ermordet, überfallen, verschleppt und misshandelt werden, muss die Erinnerung an die Pogromnacht besonders wachgehalten werden. Da werden Anschläge auf Synagogen angekündigt und israelische Flaggen verbrannt, da werden Hasstiraden auf den Straßen und in den sogenannten sozialen Netzwerken gegen Juden skandiert. Lassen Sie uns den Appell, dass wir nicht wegschauen dürfen, ernst nehmen. Lassen Sie uns hinschauen und gegenhalten.“

Dass Schülerinnen und Schüler der bischöflichen Marienschule an einem Sonntag am Gedenken teilnahmen, traf auf großen Zuspruch der über 100 versammelten Menschen. Unterstützt von ihren Lehrern Enrico Jansen und Patrick Mucke hatten sich die Neuntklässler mit den „Kindertransporten“ beschäftigt. Mit dieser Rettungsaktion konnten vom Winter 1938 bis zum Überfall der Naziarmee auf die Niederlande 1940 etwa 10.000 jüdische Kinder vor dem Naziterror gerettet werden. Dazu mussten sie ohne ihre Eltern allein nach Großbritannien reisen, so wie auch der spätere Lingener Ehrenbürger Bernhard Grünberg im Alter von 15 Jahren.

Die Jugendlichen stellten dessen Schicksal ebenso vor wie weitere Lebenswege, die Eva-Maria Thüne in ihrem auch in Lingen vorgestelltem Buch „Gerettet“ schildert.

Ein Thema der SchülerInnen waren Erfahrungen in der Schule, auch die von Herbert Haberberg: „1934 wurde ich in die Katholische Schule eingeschrieben. Im zweiten Jahr hatten wir einen Lehrer, der hieß Thiele, ein äußerst gläubiger Nazi. Er erschien jeden Tag in einer braunen Uniform . Es wurde in der Schule eine sogenannte Luftschutzlektion eingeführt. Da hatten sie einen Schuppen auf dem Spielplatz aufgebaut (…) Die Schüler wurden da reingeschickt mit einer Gasmaske, Tränengas wurde losgelassen, bis auf die jüdischen Schüler. Wir wurden reingeschickt ohne Gasmaske.“

Zum Thema „Abschied“ wurde die Schilderung von Georg Spiegelglas vorgestellt. Er erinnerte sich daran, dass seine Mutter ihn nach seinem Einstieg in den Zug nochmals sehen wollte. „Das Bild werde ich niemals vergessen. Meine Mutter läuft auf dem Gleis, aber sie hat mich nicht gefunden. Ich habe meine Mutter gesehen, aber sie hat mich nicht gesehen. Ich war acht Jahre alt. Das war das letzte Mal.“

Aber auch über mutigen Widerstand wurde berichtet. Bea Green, die eine Mädchenschule in München besucht hatte, erzählte: „Jedes Mal, wo der Hitler eine Rede gehalten hat, mussten alle Schulkinder in die Aula gehen und dem Hitler zuhören. Das war meistens um elf Uhr in der Früh. Wir auch, wir sind alle in der Aula, und jedes Mal stand da dieses riesengroße, schwarze Radio auf der Bühne und jedes Mal kam einer raus und sagte: ‚Tut mir furchtbar leid, aber schon wieder zerbrochen.‘ Nicht einmal mussten sie dem Hitler zuhören. Die haben alle genau gewusst, was los ist und keiner von den Mädchen hat je den Direktor verraten.“

BU: (v.l.) Stellten Kinderschicksale vor: Maja Lambers, Jonte Bregen-Meiners, Silas Merscher und Olga Owcarek von der Marienschule. Foto: Friedhelm Wolski-Prenger