93-Jähriger und seine Familie gestern im Kutscherhaus von Oberbürgermeister Heiner Pott empfangen
Lingen (pe)
Bernhard Hanauer ist 93 Jahre alt. Zwischen seinem Geburtsort Lingen und seinem Lebensmittelpunkt, den USA, liegen Jahrzehnte, liegen vor allem schmerzvolle Erinnerungen. Viele Verwandte aus der Familie des Juden, darunter sechs Geschwister von Hanauer, fielen im Dritten Reich dem Holocaust zum Opfer. Nun ist Hanauer für eine Woche zurückgekehrt nach Lingen, wo seine biographischen Wurzeln liegen. Die beiden Töchter und die Enkelin begleiten den Vater und Großvater auf seinem Weg durch die Stadt zu Bürgern, die ihn gestern ehrenvoll empfingen.
,,Als wir von New York losfuhren, glaubten wir, dass die Reise sehr schwer für uns wird”, sagte Madeline Ravich, Enkelin von Bernhard Hanauer, im Kutscherhaus. Nun seien sie sehr erfreut über die Art, wie die Familie hier empfangen worden sei.
Im Kutscherhaus hatten Oberbürgermeister Heiner Pott und weitere Vertreter der Verwaltung und des Rates Bernhard Hanauer, seine beiden Töchter Elaine Ravich und Linda Hanauer sowie Enkelin Madeline Ravich willkommen geheißen. Sie waren am Wochenende von New York aus nach Amsterdam geflogen, wo sie Alfred Storm von der Stadtverwaltung abgeholt hatte. ,,Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie trotz der schrecklichen Ereignisse in der Vergangenheit nach Lingen gekommen sind”, wandte sich Pott im Kurscherhaus an Bernhard Hanauer.
Die Hanauers würden zur Geschichte der Stadt gehören, unterstrich der Oberbürgermeister. Die Lingener Bürger könnten nichts ungeschehen machen, würden aber die Erinnerung an die Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung als Mahnung wach halten.
Als jüngster Sohn von Hieronymus und Friederika Hanauer war Bernhard Hanauer in Lingen aufgewachsen, lernte mit 14 Jahren Hebräisch in der Jüdischen Schule. Er besuchte das Gymnasium Georgianum, das er später verließ, um Textilkaufmann zu werden. Seine Familie hätte es gern gesehen, wenn er das Abitur gemacht und studiert hätte. Aber Bernhard wollte als Jude nicht auf die Universität gehen. Auch befürchtete er, später bei der Zulassung als Arzt oder Rechtsanwalt Schwierigkeiten zu bekommen.
Hanauer verließ deshalb Lingen als 17-Jähriger im Jahre 1925, zog nach Hagen und erlernte dort den Beruf des Textilkaufmannes. Weitere Stationen waren Kassel und Halle an der Saale. Hatte der junge Mann bis dahin noch sein Leben weitgehend selbst gestalten können, bildete die Machtergreifung der Nationalsozialisten nun einen brutalen Einschnitt. Das Leben für Juden in Deutschland wurde nach 1933 immer unerträglicher und lebensbedrohlicher, so dass auch bei Bernhard Hanauer der Gedanke an Emigration konkretere Formen annahm.
1937 kehrte Hanauer noch einmal auf eine Stippvisite nach Lingen zurück. Am Bahnhof sah er Bernd Rosemeyer, den berühmten Rennfahrer. ,,Wir waren Freunde, aber ich traute mich als Jude zu dieser Zeit nicht, auf ihn zuzugehen”, erzählte Hanauer gestern. Er habe Rosemeyer nicht in Schwierigkeiten wollen. Doch der sei spontan an ihn herangetreten. ,,Was ist los mit dir, kennst du mich nicht mehr?”, zitierte Hanauer den Rennfahrer, dem es offenbar egal war, gemeinsam mit einem Juden gesehen zu werden.
1938 bekam er eine Einladung seines Bruders Hermann, der mit seiner Familie: Frau Elsa und die Kinder Eduard, Günther, Kurt und Leonie, inzwischen von Lingen nach Belgien emigriert war. Hanauer reiste nach Brüssel, wurde dort aber kurze Zeit später von der Geheimpolizei festgenommen. Sein Bruder Hermann besucht ihn im Gefängnis. Hanauer kam später frei. Es gelang ihm, ein Visum zur Ausreise in die USA zu bekommen. Am 1. März 1941 war es soweit. Er verabschiedete sich persönlich von seinem Bruder Hermann und der Schwester Rosa und setzte mit dem Schiff von Belgien aus nach Amerika über.
Seinen Bruder und auch die Schwester hat Bernhard Hanauer nicht mehr wiedergesehen. Hermann und Elsa Hanauer, die mit ihren Kindern in Belgien inzwischen untergetaucht waren, wurden von der Gestapo entdeckt. Sie starben in den Gaskammern von Auschwitz, ebenso ihre Söhne Eduard, Günther und Kurt. Rosa Hanauer, Bernhards Schwester, kam im Lager von Sobibor um. Nur seine Nichte Leonie entging den Schergen der Nationalsozialisten. Sie überlebte in einem belgischen Kinderheim für Kriegswaisen unter einer falschen Identität.
Über einen Suchdienst fand Bernhard Hanauer ihren Aufenthaltsort nach dem Krieg heraus und sorgte dafür, dass sie ebenfalls in die USA ausreisen konnte. Leonie Hanauer starb im März in New York. Bis zuletzt hatte sie es nicht übers Herz gebracht, ihre Geburtsstadt Lingen noch einmal zu besuchen.
Bernhard Hanauer hat dies gestern getan. Es war wohl auch eine Geste an die Bürger dieser Stadt, die in den letzten Jahren viele Zeichen der Erinnerung an die jüdischen Mitbürger Lingens gesetzt haben.