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Am 9. November 2009 fand in Lingen wie alljährlich eine Veranstaltung zum Gedenken an den Novemberpogrom von 1938 statt. In Vertretung des 1. Vorsitzenden Dr. Walter Klöppel sprach Dr. Heribert Lange für das Forum Juden Christen. Der Wortlaut der Ansprache wird im Folgenden veröffentlicht.

Sehr herzlich möchte Sie alle Junge und alte Bürgerinnen und Bürger der Stadt Lingen am Ort des Pogroms vom 9. November 1938 gegen die jüdischen Bürgerinnen und Bürger Lingens und ihre Einrichtungen begrüßen – des Pogroms, dessen wir auch in diesem Jahr wieder gedenken wollen und dessen wir soeben im ökumenischen Gottesdienst in der Trinitatis-Kirche im gemeinsamen Gebet gedacht haben. An dieser Stelle, an der wir uns heute Abend versammelt haben, stand, bis sie am 9. November 1938 in einem von den Nazis über das gesamte damalige deutsche Reich entfachten Flammenmeer versank, die jüdische Synagoge. Als der Gründervater des Forums Juden Christen, Josef Möddel, sich in den 1970er Jahren erstmals auf den jüdischen Friedhof unserer Stadt begab, da fand er ihn verrottet und verwahrlost vor und offenbar auch zum Steinbruch verkommen; denn eine Reihe der Gedenksteine auf den Gräbern war nicht mehr da. Als nach Wiederherrichtung des Friedhofs Bernhard Grünberg, der mit 15 Jahren als einziger seiner Familie dem Holocaust durch die Flucht mit einem Kindertransport nach England mit geraumer Not entkommen war, als inzwischen betagter Mann nach Lingen zurückkehrte, beschloss er, für seine Familie, die nach Riga verschleppt worden war und im dortigen Ghetto den Tod fand, einen Gedenkstein auf dem jüdischen Friedhof aufzustellen, und er beschloss auch, sich am Ende seines Lebens an dieser Stelle beisetzen zu lassen. Indessen bedurfte es einiger Mühe, Überzeugungsarbeit und Entschlossenheit, um alle Beteiligten dann auch davon zu überzeugen, dass nur das Wort „ermordet” als einzig authentische Bezeichnung für den Tod seiner Familie tauge und darum auch so auf diesem Gedenkstein zu stehen habe. Helga Hanauer schließlich, die als Kind den Holocaust in Holland unter der fürsorglichen Obhut wahrlich gottgefälliger Ordensfrauen überlebt hatte, geriet die völlige Außerachtlassung der Geschichte der jüdischen Familien Lingens während der Naziherrschaft bei der Aufzeichnung der 1000-jährigen Stadtgeschichte – ebenfalls in den 1970er Jahren – zu aussichtsloser und darum tödlicher Enttäuschung.

Hannah Arendt, die große jüdische Autorin und Vordenkerin hat gesagt: „Bewältigen können wir die Vergangenheit nicht, so wenig wie wir sie ungeschehen machen können. Wir können uns aber mit ihr abfinden. Die Form, in der dies geschieht, ist indessen die Klage, die aus aller Erinnerung steigt…”, und sie sagte weiter: „Sofern es überhaupt ein ‘Bewältigen’ der Vergangenheit gibt, besteht es im Nacherzählen dessen, was sich ereignet hat. Es regt zu immer wiederholendem Erzählen an: der Dichter in seinem sehr allgemeinen, der Geschichtsschreiber in einem sehr speziellen Sinn haben die Aufgabe, dieses Erzählen in Gang zu bringen und uns in ihm anzuleiten.”

Wenn wir uns heute hier und in inzwischen guter Tradition alljährlich an die Aufgabe machen, an das Unrecht des Naziterrors zu erinnern und seiner zahllosen Opfer gedenken, dann versuchen wir das in Hannah Arendts Weise, damit der unvorstellbare, unsägliche und wahnsinnige Völkermord niemals in Vergessenheit geraten möge; wir tun dies aber auch, um den Millionen Toten durch unser Gedenken, wenn es denn Verzeihung und Vergebung kaum geben kann – vermutlich nie – um ihnen allen durch unsere Ehrerbietung und die Trauer um das furchtbare Opfer ihres millionenfachen Tods ihre Würde zurückzugeben – die Menschenwürde, das wichtigste Unterpfand und im Übrigen auch Organisationsprinzip jeder Gesellschaft, die auf den Grundsätzen des Humanismus oder des Glaubens ihrer Menschen gründet.

Die Juden und Christen gleichermaßen „heilige” Schrift erklärt uns unsere Herkunft gemäß dem Schöpfungsakt im 2. Kapitel des Buches Genesis im 7. Vers: „Dann formte Gott den Menschen aus der Erde des Ackerbodens und blies in seine Nase den Odem des Lebens. So wurde der Mensch zu (s)einem lebendigen Wesen” – wir haben gelernt zu sagen: Gott schuf den Menschen nach seinem Bild und Gleichnis. Würde und Menschenwürde, die wir uns zurechnen, sind uns so vom Schöpfer zu Lehen gegeben und an keiner Stelle dieses Buchs oder in einer anderen weltlichen oder Religionsverfassung steht geschrieben, dass sie, die Menschenwürde, nur den einen zukommt und den anderen nicht. Denn nach dem Plan Gottes sind alle Menschen derselben Abkunft und ihre Würde ist demselben, seinem Geist geschuldet Und dennoch haben Christen und Juden, obwohl als Kinder desselben Schöpfers Brüdern gleich, die einen gegen die anderen, sich gleich den biblischen Brüdern Kain und Abel und wie diese gegeneinander, erhoben, indem die einen die Ebenbürtigkeit der anderen wie mit dem mörderischen Anschlag des Kain gegen seinen Bruder zunichte machten.

Für die Christen und ihre Kirchen wurde der Antisemitismus zu ihrem Kainsmal und durchzieht, seit es Christentum gibt, unheilvoll die Geschichte der Menschheit: Die Ungleichheit von Menschen, die Infragestellung ihrer gleichrangigen Würde, die Idee vom Übermenschen oder der Überlegenheit einer besonderen Rasse, womöglich der sogenannten nordischen Rasse, und die mindere Achtung der Kleineren, der Ärmeren, der Anderen – dies alles sind Haltungen, die der Spur der unseligen Antisemitismus-Ideologie folgen und bis heute wirksam sind: Auch in unserer Gesellschaft – gegen Migranten, gegen Roma, gegen Analphabeten, Andersgläubige, Homosexuelle, gegen Hilfsbedürftige, gegen behinderte Menschen oder gegen die Alten. Es bedurfte also nicht mehr der Erfindung der Faschismus-Ideologie, um sich gegen andere Menschen oder ethnische Gruppen zu stellen – unter der Naziherrschaft dann mit millionenfacher tödlicher Perfektion. Denn nicht die verblendeten und wahnsinnigen Naziherrscher haben diesen Ungeist erfunden, vielmehr ist er, der Antisemitismus, ihm, dem Hitler-Faschismus gleich einer Blaupause in die Hände gefallen und damit, wenn auch ungewollt, zu seinem furchtbaren ideologischen Werkzeug geworden. Der perversen Fähigkeit der terroristischen Naziideologen war es indessen vorbehalten, sich dieser unsäglichen geistigen Tradition des christlichen Abendlands auf ihre einzigartig teuflische Weise perfekt zu bedienen.

Wenn wir schaffen wollen, was man von uns an diesem Tag, an diesem Abend erwarten darf, erwarten muss, dann haben wir bei unserem Erinnern und Gedenken zu Bedenken, dass es auch eine Schuld, mindestens aber eine Mitschuld des gesamten christlichen Abendlands und des traditionellen Christentums gibt, ganz gleich, ob ihre Protagonisten Bischof Williamson von der Piusbruderschaft oder Martin Luther heißen. Und wir haben weiter zu bedenken, dass das blinde Hinterherlaufen hinter unreflektierten Vorurteilen, Affekten oder Ideologien, wie wir selbst erlebt haben und wie die Geschichte zeigt, den Anfang vom Ende einer humanen und miteinander befriedeten Gesellschaft bewirken kann.

Künftiger neuer Schuld werden wir nur entgehen können, wenn wir dies nicht nur immer wieder neu bedenken, d.h. den todbringenden Ungeist und seine Wurzeln nie zu vergessen und an seine furchtbare Folge, die Shoah, die am 9. November 1938 ihren Anfang nahm, zu erinnern, sondern auch zu handeln, und zwar Tag für Tag, wie es uns von allem Anfang an durch die Bestimmung des Schöpfers aller Menschen aufgegeben ist und wie es in unserer Verfassung in Artikel 1 gleich im ersten Satz heißt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar”. Und die Väter unserer Verfassung meinten damit die Würde jedes Menschen.

Ich danke Ihnen für Ihre freundliche Geduld!

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