Lingener Tagespost | Sandsteintafel an der jüdischen Schule in Lingen
28 Freitag Mrz 2003
28 Freitag Mrz 2003
22 Sonntag Dez 2002
Sara Ruth Schumann: Begegnung nicht nur über Grabsteinen – Empfang
Lingen/Freren/Lengerich (lj)
,,Es ist wichtig, dass wir uns begegnen. Nicht nur auf Friedhöfen über Grabsteinen, sondern von Angesicht zu Angesicht.” Das erklärte die stellvertretende Vorsitzende des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Niedersachsen, Sara Ruth Schumann, bei einem Empfang der Stadt Lingen im Historischen Rathaus.
Vor dem Treffen mit der Ersten Bürgermeisterin Ursula Ramelow, Vertretern der Ratsfraktionen von CDU und SPD sowie Mitgliedern des Forums Juden-Christen Altkreis Lingen e.V. hatte Frau Schumann verschiedene Zeugnisse jüdischen Lebens im Altkreis Lingen aufgesucht.
In Freren besichtigte sie in Begleitung von Samtgemeindebürgermeister Godehard Ritz und Vertretern des Forums das von der Jüdischen Gemeinde Osnabrück erworbene jüdische Bethaus, das zu einer Stätte der Begegnung werden soll. ,,Ich bin sicher, dass Sie das hinkriegen werden”, zollte sie dem Forum ein großes Lob für die vielfältigen Bemühungen. Außerdem ging sie über den jüdischen Friedhof und nahm die Samuel-Manne-Geschichtswerkstatt im Kulturzentrum ,,Alte Molkerei” in Augenschein. Die Geschichtswerkstatt wird vor allen Dingen von Schulklassen besucht, was Frau Schmumann außerordentlich begrüßte.
In Lengerich versammelte sich die Delegation um den Gedenkstein für die ehemaligen jüdischen Mitbürger Lengerichs im Bürgerpark. Gerd Sels erläuterte die Geschichte der jüdischen Familien in dem Ort. Pastor Alfred Mengel stellte dem Gast die reformierte Kirche vor. In Lingen schaute sich Frau Schumann die als Gedenkstätte dienende Jüdische Schule an. Der Leiter des Emslandmuseums, Dr. Andreas Eiynck, informierte über die ehemalige Jüdische Gemeinde der Stadt.
Erfreut zeigte sich Frau Schumann, die auch Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Oldenburg ist und dem Direktorium des Zentralrates der Juden in Deutschland angehört, über das starke Wachstum der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen. Allein in Osnabrück gehören etwa 1000 Menschen zur jüdischen Gemeinde. Viele Menschen jüdischen Glaubens sind in den letzten Jahren aus der ehemaligen Sowjetunion nach Niedersachsen gekommen.
Beim Thema ,,Bethaus” in Freren schlug die Repräsentantin der jüdischen Gemeinde vor, aus dem Gebäude einen Ort des Lernens (,,Lehrhaus”), nicht nur über das Judentum, sondern auch über andere Kulturen zu machen. ,,Dies wäre im besten Sinne jüdischer Tradition”, sagte Frau Schumann. Das Gedenken an die ermordeten jüdischen Familien im Altkreis Lingen habe bei ihr große Wehmut hervorgerufen.
Reinhold Hoffmann, Vorsitzender des Forums Juden-Christen, unterstrich die Notwendigkeit, nicht nur über den Holocaust, sondern über das Judentum insgesamt zu informieren. ,,In Lingen finden wir bei diesem Thema bei der Stadt und den Fraktionen immer mehr ein offenes Ohr”, sagte Hoffmann. Er erneuerte die Einladung an alle Ratsmitglieder, nach Möglichkeiten zu suchen, um die Jüdische Schule noch mehr mit Leben zu erfüllen. Nach seinen Angaben haben sich in diesem Jahr bereits rund 650 Menschen – die meisten von ihnen Jugendliche – ins Gästebuch dieser Gedenkstätte eingetragen.
Die Erste Bürgermeisterin Ursula Ramelow verwies auf die Verpflichtung, an das jüdische Leben in Lingen zu erinnern. Es gelte, allen Formen von Diskriminierung konsequent entgegenzutreten. Die Jugend brauche öffentliche Zeichen, um sich dieser Aufgabe bewusst zu sein, meinte die Erste Bürgermeisterin.
27 Mittwoch Nov 2002
Lengerich (pe)
Es war eine Geschichtsstunde der besonderen Art, die gestern Vormittag rund 300 Jungen und Mädchen des achten bis zehnten Schuljahres der Haupt- und Realschule in Lengerich erleben durften. Sally Perel, als jüdischer Junge in der Uniform der Hitlerjugend dem Holocaust entgangen ließ sie teilhaben an seiner ebenso leidvollen wie außergewöhnlichen Lebensgeschichte.
Bereits im letzten Jahr hatte der 77-Jährige nach Lengerich kommen wollen, doch eine schwere Erkrankung hinderte ihn damals daran. “Deshalb freut es mich sehr, dass es nun geklappt hat”, sagte Perel, 1925 in Peine geboren und seit 1948 in Israel lebend, vor seinem Vortrag im Saal der Gast stätte zur Post. Seit dem 28 Oktober ist er für sechs Wochen, auf Vortragsreise in Deutschland unterwegs. Stationen waren auch Städte wie Erfurt, Jena und Weimar in den neuen Bundesländern.
“Wir sind die letzten Zeit zeugen, während die Gruppe der Leugner des Holocaust immer größer wird”, unterstrich Perel im Saal sein Hauptanliegen: der jungen Generation durch den Bericht eines Überlebenden das Unfassbare begreiflich zu machen, sie dadurch auch zu stärken vor ideologischer Beeinflussung. Dass in Deutschland wieder junge Menschen mit Springerstiefeln und Baseballschlägern durch die Straßen zögen, mache ihn tief betroffen.
Betroffen waren auch die Schülerinnen und Schüler der achten bis zehnten Klasse des Lengericher Schulzentrums, die die Geschichte des “Hitlerjungen Salomon” verfolgten. Die jungen Leute hatten sich nach Angaben von Rektor Franz-Josef Kordes gut vorbereitet: viele von ihnen hatten das gleichnamige Buch von Perel gelesen oder die Verfilmung gesehen. Im Kunstunterricht waren zahlreiche Zeichnungen entstanden, die im Saal hingen und die schreckliche Fratze des Zweiten Weltkrieges zeigten.
Sally Perel überlebte im Gegensatz zu seiner Familie, die der Vernichtungsmaschinerie der Nazis zum Opfer fiel, “weil ich unter die Haut des Feindes schlüpfen konnte”. Eindrucksvoll und bewegend beschrieb der 77-Jährige, wie er nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten zunächst mit seiner Familie nach Polen floh. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen beschlossen seine Eltern, dass er sich mit einem Bruder über die Grenze nach Russland durchschlagen sollte.
Doch auch dort holte ihn bald der Krieg ein. Die deutsche Wehrmacht ließ in einem Dorf bei. Minsk, wo sich der junge Salomon aufhielt, die Bürger in langen Reihen antreten, um die Juden unter ihnen sofort zu erschießen. “Du sollst leben”, hatte seine Muter zu ihm beim Abschied gesagt. Der Junge erinnerte sich daran, als der Soldat vor ihm stand: “Ich bin ein Volksdeutscher”, log Salomon und rettete damit sein Leben.
Aus Salomon wurde Joseph, oder kurz Jupp Perjel, der im Laufe des Krieges sogar eine Schule der Hitlerjugend in Braunschweig besuchte, eine Elite-Anstalt, in der die Nationalsozialisten ihren Führungsnachwuchs herausbildeten. Eindrucksvoll beschrieb Sally Perel, wie er sich von sich selbst lösen musste: seine jüdischen Wurzeln musste er kappen, stattdessen “Sieg Heil” rufen und den rechten Arm zum Hitlergruß heben. Immer in Angst, entdeckt zu werden, lebte Salomon/Joseph bis zum Kriegsende in zwei Welten. Aber es geschah auch noch etwas anderes. 40 Jahre lang habe er sich nicht, getraut, seine “eigene kleine Tragödie” auszusprechen, sagte Sally Perel: “Ich wurde ein echter junger Nazi.” Auch als jüdischer Junge habe er nicht der totalen Beeinflussung widerstehen können. “Dieser tragische Konflikt, Jude und Nazi in einer Person gewesen zu sein, begleitet mich bis heute”, beschrieb Perel seine Gefühle.
Die Darstellung des eigenen Erlebens einer staatlich angeordneten Gehirnwäsche, die aus eigenständigen Individuen willfährige Massen machte, war für ihn ein zentraler Punkt im Vortrag, um seine Botschaft an die Schülerinnen und Schüler
rüberzubringen. Ihre persönliche Stärke könne auch auf Wissen beruhen, das er als Zeitzeuge vermittele. “Eine psychisch schwache Jugend, deren Ego nicht stark ausgeprägt ist, ist empfänglich für Parolen”, warnte der 77-Jährige vor den ..Folgen einer solchen Labilität.
Perel verstand seine Ausführungen deshalb als Auftrag an die jungen Leute: “Ihr habt den Bericht noch gehört, während wir Zeitzeugen bald nicht mehr da sind und in Deutschland wieder. marschiert wird.” Auch die Schülerinnen und Schüler aus Lengerich und Umgebung sah er als Multiplikatoren an, Fakten weiterzugeben und aus der Geschichte zu lernen, und zitierte den Schriftsteller Bertolt Brecht: “Wer die Wahrheit nicht weiß, ist ein Dummkopf, wer sie weiß und eine Lüge nennt, ist ein Verbrecher.”
27 Mittwoch Nov 2002
Zur Einweihung des Bethauses in Freren eingeladen
Freren (th)
Über 500 aufmerksame Schüler/Innen der 7. bis 10. Klassen aus Freren und Thuine hatte Sally Perel im Atrium der Realschule in Freren als Zuhörer. Und auch seine öffentliche Lesung am Montagabend war dort gut besucht. Zwischendurch gab es ein Begrüßungsgespräch im Rathaus. Fragen zu seiner Biografie fanden reges Interesse und besonders seine Einschätzung der aktuellen politischen Lage in Israel sowie der Möglichkeiten, dort endlich Frieden zu erreichen.
Bürgermeister Klaus Prekel begrüßte den Gast herzlich. In den letzten Jahren sei in Freren schon viel für die Aufarbeitung der jüdischen Geschichte getan worden, jüngst vor allem durch die geplante Restaurierung des früheren Bethauses an der Grulandstraße, das zu einer Stätte der Begegnung der Kulturen werden solle, erklärte er.
Sally Perel sprach die Hoffnung aus, dass hier besonders die Erinnerung für die Nachkommenden wach gehalten werde. Es gelte, der Jugend vor Augen zu führen, dass Kulturen keine Grenzen haben sollten.
Reinhold Hoffmann, Vorsitzender des Forums JudenChristen, freute sich, dass der Autor Sally Perel zum zweiten Mal innerhalb von zwei Jahren nach Freren gekommen sei. Er hob das verdienstvolle Wirken von Lothar Kuhrts, Leiter der jüdischen Geschichtswerkstatt Samuel Manne in der Alten Molkerei, hervor. Lothar Kuhrts habe in vorbildlicher Weise besonders Jugendlichen die Gedenkarbeit nahe gebracht.
“Wir sind froh, dass unsere Arbeit auch von den Politikern stark unterstützt wird”, betonte Hoffmann und nannte als Beispiele die Restaurierung der jüdischen Schule in Lingen und das Projekt jüdisches Bethaus in Freren, das zu einem Ort des Gedenkens, der Kommunikation und der Aufarbeitung und Darstellung der Geschichte werden solle. Reinhold Hoffmann lud den Schriftsteller ein, zur Einweihung – voraussichtlich gegen Ende des Jahres 2003 – zu kommen. Sally Perel sagte: “Ich nehme die Einladung gern an.”
Im Gespräch berichtete er von mehreren Stationen seines Lebens auch nach dem Krieg. Er bezeichnete sich als “freidenkender Israeli”. Als Mitglied der Friedensbewegung ist es ihm ein dringendes Anliegen, zum vertrauensvollen menschlichen Umgang miteinander zu mahnen. Doch es sei schwer, z. B. Menschen zu überzeugen, die sich aus Fanatismus selbst in die Luft sprengen. Die extremistischen Gruppen der Palästinenser und der Israelis sorgten gegenseitig für die Eskalation.
Als Weg zur Lösung des Palästinenser-Konfliktes sieht er nur folgende Möglichkeiten: Räumung der israelischen Siedlungen, Rückkehr zur Grenze von 1967 und Gründung eines Palästinenser-Staates. “Aber Sharon wird niemals die Siedlungen räumen” sondern weiterkämpfen”, kritisierte er die jetzige Politik. Sally Perel empfiehlt: “Nehmt den religiösen
Aspekt aus dem Konflikt, dann ist der Friede erreichbar. ” Erbaut dabei auf die Hilfe Europas und Amerikas.
Zum Thema Irak bemerkte Perel: “Ich bin gegen einen Krieg. Wenn man Saddam Hussein in Ruhe lässt, wird er uns auch in Ruhe lassen. Es gibt noch wichtigere Adressen als Saddam, wenn man den Terrorismus bekämpfen will.” Viele Länder. verfügten heute über atomare, biologische und chemische Waffen.
24 Sonntag Nov 2002
Die Zukunft ist hoffnungsvoll
Von Werner Scholz
Lingen (eb) – Gemeinsam gedachten das Forum JudenChristen, Mitglieder der jüdischen Gemeinde Osnabrück, Vertreter der Stadt Lingen und weitere Teilnehmer an der Jüdischen Schule der Opfer der Pogromnacht vom 9. November 1938.
“Alljährlich versammeln wir uns hier am Gedenkort Jüdische Schule, um uns daran zu erinnern, dass, in dieser Nacht Synagogen in ganz Deutschland brannten. Angehörige von SA und SS zertrümmerten die Schaufenster jüdischer Geschäfte, demolierten die Wohnungen jüdischer Bürger und misshandelten die Bewohner”; sagte der Vorsitzende des Forums Juden-Christen, Reinhold Hoffmann.
Die Bilanz der Terrornacht: 91 Tote, weit über 2000 zerstörte Gottes- und Gemeindehäuser sowie 7500 verwüstete Geschäfte. Die Lingener Synagoge wurde kurz nach Mitternacht niedergebrannt.
“Auch in unserer Stadt konnten die Nazis vor den Augen der Bevölkerung ungehindert ihr unsägliches Treiben durchführen”, sagte Hoffmann, der auch an die ersten Deportationen von Westerbork nach Auschwitz erinnerte. “Die letzten Bewohner des Lingener Judenhauses traten vor 60 Jahren die Reise nach Theresienstadt an. Es gilt, an diesen Teil unserer Vergangenheit zu erinnern – aus ihr zu lernen hilft, in der Gegenwart zu leben”, mahnte Hoffmann.
Zu den Gästen zählte auch der Vorstandsvorsitzende des Kamp Westerbork, Jan de Graaf, der in einer bewegenden Rede ebenfalls an die Verbrechen der Nationalsozialisten erinnerte. “Nicht die Geschichte wiederholt sich, sondern die Menschen. Noch immer gibt es Rassismus, Intoleranz und Vorurteile, die wir bekämpfen müssen”, so de Graaf. Jedoch setzten sich heute mehr und mehr junge Menschen gegen das Unrecht ein. “Dabei sind Friedensgruppen, Flüchtlingsorganisationen oder Einrichtungen wie die Geschichtswerkstatt Samuel Manne wichtig. Man kann sagen, die Zukunft ist hoffnungsvoll”, hob deGraaf hervor.
“Damals brachten nur wenige ihren Einsatz öffentlich zum Ausdruck. Was passiert ist, darf sich nicht wiederholen”, mahnte Lingens Oberbürgermeister Heiner Pott. Anschließend wurde dort, wo einst die Synagoge stand, ein Kranz niedergelegt. Es wurde gemeinsam gebetet und für jedes Lingener Opfer der nationalsozialistischen Diktatur eine Kerze entzündet und schweigend zum Gedenkstein der jüdischen Familien Lingens getragen.
22 Freitag Nov 2002
Herzlich empfangen wurde die stellvertretende Vorsitzende des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Niedersachsen, Sara Ruth Schumann (6. von links), im Historischen Rathaus von Lingens Erster Bürgermeisterin Ursula Ramelow (7. von links). Zuvor hatte Frau Schumann in Begleitung von Vertretern des Forums Juden-Christen Altkreis Lingen e.V. verschiedene Zeugnisse jüdischen Lebens im Altkreis Lingen aufgesucht. Sie freute sich sehr darüber, dass dank des Zuzugs vieler Menschen aus den Ländern der früheren Sowjetunion die Jüdischen Gemeinden in Niedersachsen stark gewachsen sind. So gehören nach ihren Angaben der Jüdischen Gemeinde in Osnabrück rund 1000 Mitglieder an (siehe Bericht auf der Seite ,,Kreis Emsland”).
12 Dienstag Nov 2002
Gedenken an der Jüdischen Schule – Fürbitten und Gebete
Lingen (neu)
Mit einer eindrucksvollen Gedenkfeier an der Jüdischen Schule in Lingen wurde der Opfer gedacht, die im Zuge der Reichspogromnacht am 9. November 1938 mit deren unsagbaren Folgeaktionen der Vollzugsorgane des Hitler-Regimes ein qualvolles Ende nahmen. Das Juden-Christen-Forum des Altkreises Lingen hatte zu diesem Erinnern eingeladen und viele Bürgerinnen und Bürger nahmen daran Teil.
Forumsmitglied Reinhold Hoffmann erinnerte in seiner Einführung an die Opfer und die Verwüstungen von Gottes- und Gemeindehäusern sowie unzähliger Geschäfte, die den jüdischen Mitbürgern gehörten. Auch in Lingen hätten in dieser Nacht vor den Augen der Bevölkerung die Nazis die Synagoge ungehindert niederbrennen können. In das Erinnern müsse auch eingebunden werden, dass die ersten Deportationen vom niederländischen Westerbork nach Auschwitz erfolgten.
Ebenso wolle man an die Verschleppung von deutschen und österreichischen Juden in das so genannte ,,Alters- oder Vorzugsgetto” in Theresienstadt erinnern, das entgegen der Darstellungen der Nazis in Wirklichkeit ein Konzentrationslager mit hoher Sterblichkeitsrate war. Es gelte insgesamt, die Vergangenheit wach zu halten, um in der Gegenwart leben zu können, sagte Hoffmann.
Jan de Graaf, Vorsitzender des Aktionskreises ,,Kamp Westerbork” aus den Niederlanden, nahm diesen Faden auf und merkte an, dass niemand einen Blick für die Gegenwart haben könne, wenn er vor der Vergangenheit die Augen verschließe. Die Reichspogromnacht sei Start zu einer unsäglichen Leidensgeschichte für viele Menschen geworden. Das Zentrallager Westerbork sei 1939 eingerichtet worden, um Zuflucht suchende Juden aus Deutschland aufzunehmen.
Nach der Wannseekonferenz 1942, bei der die ,,Endlösung” der Juden beschlossen wurde, sei die Einrichtung jedoch als Durchgangslager zur Vernichtung umfunktioniert worden. Westerbork via Auschwitz wären somit Traumata für unzählige Menschen geworden, in 93 Zügen seien über 100 00 Menschen in die Vernichtungslager transportiert worden, stellte Jan de Graaf noch einmal fest. Auschwitz und die anderen Vernichtungslager hätten eigentlich unser Denken über Toleranz und Gewalt verändern müssen, die Wirklichkeit jedoch sehe anders aus.
Jan de Graaf: ,,Eine bessere Welt ist aufgrund der schrecklichen Geschehnisse nicht entstanden, nach wie vor gibt es Gewalt, Folter und ethnische `Säuberungen` auf der Welt.” Es ist nach seinen Worten nicht die Geschichte, die sich wiederholt, sondern es sind die Menschen. Die Erinnerung an die Reichspogromnacht und die Folgezeit habe aktuellen Bezug. Es gelte nach wie vor, Intoleranz zu bekämpfen. Obwohl selbst Opfer wie Anne Frank und andere in ihrer schrecklichen Not nicht den Hass, sondern Hoffnung und Glaube an das Gute im Menschen in sich trugen und dieses weitergeben konnten, habe sich die Welt in den letzten 60 Jahren nicht verändert.
Ohne Hoffnung aber könne man nicht leben, darum sei es tröstlich und gut zu wissen, dass es Gruppen, Initiativen und Institutionen gibt, die sich der Mahnung und Erinnerung annehmen. Wenn vor allem junge Menschen diese Vergangenheit aufbereiten und verstehen lernten, könnten sie die bessere Zukunft mit Frieden, Solidarität und Gerechtigkeit gestalten helfen, sagte Jan de Graaf.
Oberbürgermeister Heiner Pott mahnte, nicht zu vergessen, dass vor 64 Jahren eine staatlich organisierte Aktion dafür gesorgt habe, dass Menschenrechte und Menschenwürde in unserem Lande mit den Füßen getreten wurden. Die Reichspogromnacht war nach seinen Worten der Beginn des größten und schlimmsten Völkermordes der Geschichte. Tiefe Betroffenheit stelle sich am Gedenktag ein, weil auch in Lingen die Ereignisse schlimme Auswirkungen hatten.
Beim Niederbrennen der Synagoge ebenso bei Demütigungen, Verfolgungen und Deportationen der jüdischen Mitbürger habe es beifallspendende Zeugen gegeben, andere hätten geschwiegen oder seien gleichgültig gegenüber diesen Übergriffen gewesen. Man könne nichts rückgängig machen, was man als den traurigsten Teil der eigenen Geschichte ansehen müsse, aber man habe die Möglichkeit, aktiv dazu beizutragen, dass sich derlei Ereignisse niemals wiederholen.
Der wechselvolle Umgang der Stadt Lingen mit der Geschichte der jüdischen Gemeinde hätte noch Mitte der 70er Jahre die gebührende Sensibilität für dieses Thema vermissen lassen. Es fehle zum Beispiel in der Chronik anlässlich des 1000-jährigen Bestehens der Stadt in 1975 ein Hinweis auf die jüdische Gemeinde. Es ist nach den Worten des Oberbürgermeisters seitdem einiges geschehen, um die Vergangenheit aufzuarbeiten, die Erinnerung wach zu halten und neuen extremistischen Richtungen entgegenzuwirken.
Die Errichtung von Gedenksteinen auf dem jüdischen Friedhof, die Renovierung und Gestaltung der Jüdischen Schule zur Gedenkstätte, Einladungen an ehemalige jüdische Mitbürger der Stadt, die Pflege von Freundschaften sowie viele Veranstaltungen im Kulturbereich machten deutlich, dass der Stadt Lingen sehr daran gelegen sei, einen Beitrag zur Versöhnung, zur Aufarbeitung der Geschichte und zum Einsatz gegen jede Form der Fremdenfeindlichkeit zu leisten.
Dank sprach der Oberbürgermeister in diesem Zusammenhang dem Juden-Christen-Forum für das bisher gezeigte Engagement in diesem Sinne aus. Es gebe auch 2002 noch Menschen, die jüdische Friedhöfe schändeten, am Stammtisch Witze gegen Juden pflegten, am Arbeitsplatz Minderheiten mobbten und diskriminierten und sich allzu schnell von antisemitischen Äußerungen verführen ließen. Alle in Politik, Verwaltung oder Schule, bei der Arbeit oder in der Freizeit seien gefordert, diesen neuen Anfängen zu wehren. Die Gedenkfeier möge daher in diesem Sinne dazu beitragen, dass sowohl die Erinnerung an die Würde der Menschen wach gehalten als auch Toleranz und Mut in der Gesellschaft gestärkt werden, jeglicher Diskriminierung entgegen zu treten im Sinne von Integration, Verständigung und Versöhnung.
Fürbitten, Gebete und Erinnerung an die Lingener Opfer der Judenverfolgung sprachen Anne Scherger, Ursel und Johannes Wiemker, das Kaddish-Gebet sprach Herbert Jäger.
12 Dienstag Nov 2002
Klassen besuchten gestern Gedenkort in Lingen
Lingen (pe)
Im Rahmen der Gedenkveranstaltungen des Forums Juden-Christen aus Anlass der Exzesse gegen die jüdische Bevölkerung in Deutschland am 9. November 1938 war es dem Forum ein besonderes Anliegen, die Schulen in Lingen stärker einzubinden.
Gestern trafen deshalb Schülerinnen und Schüler aus der Friedensschule, Gebrüder-Grimm-Schule, der IGS, den Gymnasien Johanneum und Georgianum und der Marienschule, begleitet von ihren Lehrern, am Gedenkort Jüdische Schule ein. ,,Ähnlich, wie es an den Gedenktagen in Freren bereits seit Jahren geschieht, wollen wir auch in Lingen verstärkt die Schulen einbeziehen”, erläuterte Reinhold Hoffmann, Vorsitzender des Forums.
Montag Mittag war die zehnte Hauptschulklasse der Marienschule mit Lehrer Benno Vocks zur Jüdischen Schule gekommen. Viele junge Leute betraten zum ersten Mal den kleinen Raum, in dem Museumsleiter Dr. Andreas Eiynck anhand der Ausstellung darin über das jüdische Leben in Lingen und den Holocaust berichtete. Die meisten Juden aus der Stadt fielen ihm zum Opfer.
Zuvor hatte Lehrer Benno Vocks draußen vor der Schule am Gedenkstein für die jüdischen Familien aus Lingen ein Bild von der 1938 zerstörten Synagoge gezeigt, die wenige Meter von der Schule entfernt gestanden hatte.
,,Was müssen damals wohl die Lingener Bürger angesichts dieser Ereignisse gedacht oder gemacht haben?”, fragte der Pädagoge und versuchte selbst, eine Antwort zu geben. Vielen möge es relativ gleichgültig gewesen sein, andere, die das Unrecht gespürt hätten, seien vielleicht auch aus Furcht stumm geblieben. Dieser Gedenktag gebe deshalb gerade jungen Leuten die Möglichkeit, vor dem Hintergrund ausländerfeindlicher Tendenzen heutzutage über das eigene Verhalten nachzudenken, wandte sich Vocks an die Schülerinnen und Schüler.
Diese lasen anschließend einige Namen von jüdischen Familien auf dem Stein vor. Die Gravuren beginnen mit ,,Baumgarten” und enden mit ,,Wolff”. Jakob Wolff, der letzte Synagogenvorsteher Lingens, hatte die Zerstörung des Gebetshauses noch mit erlebt, bevor er im April 1941 starb.
02 Samstag Nov 2002
Lingen (pe)
Einen regelmäßigen Dialog hat das Forum Juden-Christen im Altkreis Lingen mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland vereinbart. Dies ist das Ergebnis eines Besuches von Reinhold Hoffmann, Vorsitzender des Forums, in Berlin. Begleitet wurde Hoffmann von Lingens Kulturdezernentin Dr. Claudia Haarmann und Museumsleiter Dr. Andreas Eiynck.
In einem Gespräch mit unserer Zeitung zog Hoffmann eine positive Bilanz des Abstechers nach Berlin, wo die Gruppe aus Lingen auch mit Vertretern des American Jewish Committee, der Jüdischen Gemeinde von Berlin und dem Jüdischen Museum zusammen traf.
Das American Jewish Committee konzipiert nach Angaben Hoffmanns unter anderem Seminare, die sich mit dem Antisemitismus, seinen Ursachen und Auswirkungen beschäftigen. ,,Angesprochen sind vor allem Lehrkräfte”, erläuterte der Baccumer. Ob eine engere Zusammenarbeit mit dem Komitee möglich sei, solle weiter geprüft werden, sagte Hoffmann.
Fest vereinbart ist diese mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland. Gesprächspartner war Dr. Peter Fischer, unter anderem zuständig für die Gedenkstätten in Deutschland. ,,Unser Anliegen war eine zentrale Erfassung dieser Gedenkstätten, zu denen ja auch die Jüdische Schule gehört”, erklärte Hoffmann. Abgesprochen wurden regelmäßige Arbeitstreffen im nächsten Jahr, die abwechselnd in Berlin und im Altkreis Lingen stattfinden sollen. Wie Fischer mitgeteilt habe, werde an diesen Treffen auch der Direktor der “Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum”, Dr. Hermann Simon, teilnehmen, betonte Hoffmann.
In dem Gespräch mit unserer Zeitung sagte der Forumsvorsitzende, dass das Judentum thematisch nicht auf den Holocaust begrenzt werden dürfe. ,,Wir wollen in unserer Arbeit auch deutlich machen, was das jüdische Leben und den Glauben ausmacht, um so Hemmschwellen abzubauen”. In diesem Zusammenhang habe Dr. Peter Fischer vom Zentralrat der Juden in Deutschland davor gewarnt, als Christen die Juden ,,nachzuleben”. Vielmehr gelte es, mit Juden in einen Dialog zu treten. Diesem Ziel diene auch der vereinbarte ständige Gesprächskontakt.
Der Zentralrat sei im Übrigen beeindruckt von der Arbeit des Forums und seines Vorgängers, des Arbeitskreises Judentum-Christentum gewesen, merkte Hoffmann weiter an. Dies gelte auch für die jüngsten Pläne, das ehemalige jüdische Bethaus in Freren zu einem Ort der Begegnung zu machen. Wie berichtet, haben der Vorsitzende des Zentralrates, Paul Spiegel, und der niedersächsische Ministerpräsident Sigmar Gabriel die Schirmherrschaft für das Vorhaben übernommen.
Neugierig auf die Arbeit des Forums ist auch die Jüdische Gemeinde von Berlin. Ende Januar 2003 wird deren Vorsitzender Dr. Alexander Brenner in den Altkreis Lingen kommen. Unvergessen ist in der Emsstadt der bewegende Besuch von Jerzy Kanal, damaliger Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde, im Januar 1997.
Letzte Station des Besuchs der Lingener war das Jüdische Museum. Die Darstellung des Holocaust ziele dort sehr stark auf die Geschehnisse in den städtischen Zentren Nazideutschlands ab und weniger auf die Regionen, sagte Hoffmann. ,,So gibt es zum Beispiel keine Informationen über den so genannten Bielefelder Transport, in dem ja auch Juden aus dem Raum Lingen nach Osten deportiert wurden”. Im Gespräch mit einer Vertreterin des Jüdischen Museums kam man deshalb überein, im nächsten Jahr der dortigen Bücherei Veröffentlichungen von Anne Scherger aus Lingen und Lothar Kuhrts aus Freren zu übergeben.
30 Mittwoch Okt 2002
Dr. Brenner im Januar 2003 in Lingen
Lingen
Am 30. und 31. Januar des kommenden Jahres erwartet das Forum Juden – Christen mit Dr. Alexander Brenner aus Berlin den Vorsitzenden der größten Jüdischen Gemeinde Deutschlands. Diese Zusage erhielt das Forum Juden – Christen in diesen Tagen aus der Hauptstadt.
Zur Einladung dieser hochrangigen Persönlichkeit durch Forum und Stadt Lingen kam es anlässlich eines Besuches in Berlin unter der Leitung von Reinhold Hoffmann, Vorsitzender des Forums. Gemeinsam mit Kulturdezernentin Dr. Claudia Haarmann und dem Leiter des Emslandmuseums, Dr. Andreas Eiynck, hatte das Forum u.a. Gespräche mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland und der Jüdischen Gemeinde Berlins geführt.
Bereits 1996 hatte der damalige Vorsitzende der Berliner Gemeinde, Jerzy Kanal, anlässlich des Holocaustgedenktages zunächst an einem eindrucksvollen ökumenischen Gottesdienst im Lingener Ortsteil Baccum teilgenommen, und am zweiten Tag seines Besuches im voll besetzten Saal der Wildhelmshöhe der Opfer des Nationalsozialismus gedacht.
Der 1930 in Polen geborene Dr. Alexander Brenner wurde am 2. Mai 2001 von seiner Gemeinde zum Vorsitzenden gewählt. Brenner studierte zunächst in Erlangen und an der Technischen Universität Berlin. Er promovierte an der Technischen Universität Berlin in Chemie und Physik. Brenner war unter anderem Berater mehrerer wissenschaftlicher und industrieller Institutionen für Kontakte mit GUS-Staaten und Israel.