Forum Judentum Christentum

1996 – 2000

10.11.2000, Lingener Tagespost | Weber: Wir dürfen am Datum des 9. November nicht vorbei gehen

10 Freitag Nov 2000

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Justizminister besuchte Donnerstag Gedenkort Jüdische Schule in Lingen

Lingen (pe)
Tief beeindruckt zeigte sich gestern mittag der niedersächsische Justizminister Dr. Wolf Weber (SPD) von dem Engagement der Stadt Lingen, die Erinnerung an die jüdische Gemeinde der Stadt aufrechtzuerhalten. Besonders sichtbar wird dieses Bemühen an der Jüdischen Schule in der Jakob-Wolff-Straße, die der Minister besuchte. Und dies an einem geschichtsträchtigen Tag: der 9. November 1938 stellte mit der Pogromnacht den Beginn der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in Deutschland dar.

In der jüdischen Schule hatten neben Weber unter anderem auch Vertreter der SPD, darunter die Landtagsabgeordnete Elke Müller, sowie Mitglieder des Arbeitskreises Judentum-Christentum mit ihrem Vorsitzenden Pastor Wolfgang Becker an der Spitze Platz genommen. An der Veranstaltung nahm außerdem der Osnabrücker Rabbiner Marc Stern teil.

,,Der 9. November war der Buchstabe A des Alphabets der jüdischen Vernichtung in Deutschland und Europa”, sagte Stern. Juden und Christen in Deutschland hätten die gemeinsame Pflicht, die Erinnerung an die Grausamkeiten des NS-Regimes wachzuhalten. ,,Wir Juden müssen dies tun, um an unsere Toten zu erinnern, die sonst ein zweites Mal getötet würden.” Die Erben der Täter sollten die Erinnerung wachhalten, damit sich diese Verbrechen nie mehr wiederholten.

In einer sehr persönlich gehaltenen Ansprache dankte Justizminister Dr. Weber der Stadt Lingen, dass sie mit der Erhaltung der Jüdischen Schule ein Zeichen gegen das Vergessen gesetzt habe. ,,Wir wollen und dürfen nicht vorbeigehen an diesem Datum des 9. November”, betonte Weber. Es gelte jenen ,,Reihen junger Männer, die mit unsäglichen Parolen Angst verbreiten und die Straße für sich gewinnen wollen”, die Stirn zu bieten.

Dazu gehöre ebenso, sich zur Geschichte zu bekennen, auch zur eigenen, meinte der Minister, der dies durchaus wörtlich nahm. Der SPD-Politiker erinnerte in seiner Ansprache an seinen Urgroßvater Benjamin Samuel, der aus Ungarn stammte und jüdischen Glaubens war. Weber drückte abschließend seine Freude darüber aus, dass in der Region Weser-Ems die Zahl der jüdischen Gemeinden in den vergangenen Jahren wieder größer geworden ist.

Wie stark die jüdische Gemeinde in der Stadt Lingen integriert war, machte der Leiter des Lingener Emslandmuseums, Dr. Andreas Eiynck, deutlich. Er blickte auf die ersten Spuren jüdischen Lebens in Lingen im 17. Jahrhundert zurück, rief den Bau der Synagoge und der jüdischen Schule im Jahre 1878 in Erinnerung, ebenso die Pogromnacht 1938, als SA-Leute die Feuerwehr am Löschen der Synagoge hinderten. Die Schule ging damals nur deshalb nicht in Flammen auf, weil sie zu dicht an Nachbarhäusern gestanden hatte.

Die Stadt Lingen habe sich anfangs recht schwer mit ihrer eigenen Geschichte getan, sagte der Historiker und erwähnte ein Buch zur 1000-Jahr-Feier der Stadt im Jahre 1975, in dem die jüdische Gemeinde mit keinem einzigen Wort erwähnt worden sei. Seitdem habe sich aber vieles geändert, sagte Eiynck mit Blick auf die aufwendig sanierte Schule und den herzlichen Umgang der Stadt mit den nun zu Ehrenbürgern ernannten früheren jüdischen Bürgern Ruth Foster, geborene Heilbronn, und Bernard Gruenberg.

Im Anschluss daran legte der Minister vor dem Gedenkstein zur Erinnerung an die jüdischen Familien Lingens Blumen nieder. Rabbiner Marc Stern sang das ,,El mole rachamin” (Gott erfüllt uns mit Barmherzigkeit), ein hebräisches Gebet, dessen Inhalt sich dennoch jedem erschloss. Die Aufzählung der Vernichtungslager in diesem Gebet verstärkte das Anliegen aller, Zeichen gegen das Vergessen zu setzen.

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Lingener Tagespost | Jüdischer Friedhof in Stadt Freren geschändet

31 Montag Jul 2000

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Sechs Grabsteine umgestoßen – Kuhrts: Bin entsetzt

Freren (pe)
Der jüdische Friedhof an der Industriestraße in Freren ist am Wochenende von unbekannten Tätern geschändet worden. Sechs Grabsteine wurden vom Sockel gestoßen. ,,ich bin sehr bestürzt über diese Tat”, sagte am Sonntagnachmittag Lothar Kuhrts vom Arbeitskreis Judentum-Christentum gegenüber unserer Zeitung.

Der Sonderschullehrer aus Freren bemüht sich seit vielen Jahren, die Erinnerung an die jüdische Gemeinde Frerens wach zu halten. Vor zwei Jahren gründete er die jüdische Geschichtswerkstatt ,,Samuel Manne”, benannt nach jenem jüdischen Jungen aus dem Ort, der als Vierjähriger mit seiner Großmutter in Auschwitz getötet wurde. Auch der Gedenkstein für diese beiden Frerener Juden wurde umgestoßen.

Kuhrts war noch am Freitag auf dem jüdischen Friedhof gewesen, als noch alles in Ordnung gewesen war. ,,Heute Mittag rief mich dann ein Bekannter an, der gesehen hatte, dass das Tor zum Friedhof offenstand und von den Zerstörungen berichtete”, sagte der Pädagoge gestern. Kuhrts fuhr sofort hin und war sehr betroffen vom Ausmaß der Schäden. Nach seinen Angaben sind dort vor einiger Zeit schon einmal zwei Grabsteine umgestoßen worden. Die Stadt Freren habe sie dankenswerter Weise wieder errichten lassen. ,,Und nun das”, äußerte sich der Frerener fassungslos.

Der jüdische Friedhof in Freren wurde Mitte der 20ger Jahre eingerichtet. Bestattet wurden dort Juden aus dem Raum Freren und Lengerich. Begraben ist dort auch die Großmutter der Lingener Ehrenbürgerin Ruth Foster, geborene Heilbronn. ,,Wenn Frau Foster in Deutschland ist, führt ihr Weg immer auch nach Freren”, sagte Kuhrts. Auch der Grabstein ihrer Großmutter wurde gewaltsam vom Sockel gestoßen.

Kuhrts, der seit 1982 den Friedhof gemeinsam mit seinen Schülern pflegt, hofft, dass die polizeilichen Ermittlungen schnell zum Erfolg führen und die Täter gefaßt werden. ,,Dass so etwas hier möglich ist, hätte ich nicht gedacht”, betonte der Sonderschullehrer gestern. Hinweise nimmt die Polizei Freren unter Tel.: 05902/93130 entgegen.

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Lingener Tagespost | Die Jüdische Schule kann viele Geschichten erzählen

13 Montag Dez 1999

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Zahlreiche Gegenstände zu Festtagen und Gebräuchen – Hinterhofcharakter soll auch künftig erhalten bleiben

Lingen (pe)
“Zur Erinnerung, 8. November 1998″ steht unter dem von Ignatz Bubis handsignierten Foto auf einem kleinen Tisch in der Jüdischen Schule in Lingen. Über ein Jahr ist es her, seit dem der inzwischen verstorbene Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland der Stadt Lingen im Allgemeinen und der kleinen Schule im Besonderen seine Aufwartung gemacht hatte. Während draußen der Wind um die Ecken pfeift, ist es im Inneren des Gebäudes anheimelnd warm. Pflanzen stehen an den Fenstern. ,,Normalität” im Angesicht des Holocaust, der vor allem in Form des KZ-Kleides von Ruth Foster überall im kleinen Raum präsent ist – ist das kein Widerspruch?

Für Anne Scherger, Mitglied im Arbeitskreis Judentum-Christentum, ist das kleine Haus mehr als nur ein Ort, der auf die Leiden jüdischer Mitbürger Lingens zur Zeit des Nationalsozialismus hinweisen will. Die großen Vitrinen an den Wänden der Schule sind voll von Gegenständen, die jüdische Festtage und Gebräuche erklären können. Sie nehmen im Vergleich zu Erinnerungsstücken an den Holocaust einen wesentlich größeren Raum ein.

Die beiden Samttaschen mit den Initialen ,,B.G.” für Bernhard Grünberg sind zwei Beispiele. Die eine enthielt seinen Gebetsmantel, die andere die Gebetsriemen. Grünberg, der im Gegensatz zu seiner Familie den Holocaust nur überlebte, weil er 1938 als Jugendlicher nach England ausreiste, hatte Gebetsmantel und -riemen von seinen Eltern zum Bar Mizwa geschenkt bekommen. An diesem Fest zum 13. Geburtstag wurde Grünberg zum vollwertigen Mitglied der Synagogengemeinde Lingens. Gegenstände in der Jüdischen Schule können viele Geschichten erzählen…

,,Nur das, was man kennt, ist schützenswert”, sagt Anne Scherger. Indem jüdisches Gemeindeleben im wahrsten Sinne des Wortes wieder gegenständlich gemacht wird, erhält der Besucher der Schule auch einen Zugang zu den Menschen, die in dieser Schule einmal als Teil der jüdischen Gemeinde Lingens unterrichtet wurden oder in Lingen gelebt haben. Er lernt sie kennen, die Grünbergs, Cohens und Heilbronns. So spürt er tiefer, als es ein Geschichtsbuch leisten kann, die Notwendigkeit, Menschen beizustehen, die ins Abseits gedrängt werden. Die Jüdische Schule ist somit nicht nur ein Ort der Erinnerung, sondern Aufforderung zur Wachsamkeit.

Wenn die Stadt Lingen Anfang nächsten Jahres das inzwischen in ihrem Besitz befindliche Nachbarhaus der Schule am Konrad-Adenauer-Ring abreißt, wird die Schule für eine gewisse Zeit ihren Hinterhofcharakter verlieren, den es seit seiner Entstehung im Jahr 1878 immer gehabt hat. Der Arbeitskreis Judentum-Christentum spricht sich dafür aus, die entstandene Baulücke zu einem Teil wieder zu bebauen. ,,Nach außen hin soll die Schule abgeschlossen wirken”, betont Anne Scherger. Sie sieht in dieser Abgeschlossenheit auch einen wichtigen Schutz des Gebäudes vor möglichem Vandalismus. Ein schmiedeeisernes Tor im Eingangsbereich des Gedenkortes Jüdische Schule könne ein Übriges dazu tun.

Die Pläne der Stadt Lingen, die Jüdische Schule durch eine reduzierte Neubebauung am Konrad-Adenauer-Ring in eine angemessenen Weise ins Blickfeld zu rücken, kommen dem Arbeitskreis deshalb entgegen. ,,Gedenkorte zeichnen sich durch Zurückhaltung aus”, erläutern Planungsamtsleiter Lothar Schreinemacher und Stadtbaurat Nikolaus Neumann.

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Lingener Tagespost | Remling: Jüdische Schule ein sprechendes Symbol

10 Dienstag Nov 1998

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Zahlreiche Bürger nahmen in Lingen an Einweihung teil

Lingen (pe)
Dichtgedrängt standen die Menschen am Sonntagabend um das kleine jüdische Schulhaus an der künftigen Jakob-Wolff-Straße. Fast schien es so, als wollten sie das Gebäude, das jahrzehntelang von seinen Besitzern als Schuppen genutzt und dem Verfall ausgesetzt worden war, in Schutz nehmen. Jene Bürger der Stadt, die um den historischen Juwel wußten, der das äußerlich unscheinbare Haus darstellt, freuten sich trotz des schlechten Wetters um so mehr über die würdige Einweihung des Gedenkortes ,,Jüdische Schule”.

Bevor diese sich ein Bild vom Inneren der Schule machen konnten, in dem sich eine Dauerausstellung über die Geschichte der jüdischen Familien aus Lingen befindet, besichtigte der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, das Gebäude. Museumsleiter Dr. Andreas Eiynck erläuterte dem Gast die Ausstellung, die im Wesentlichen Anne Ruth Scherger vom Arbeitskreis Judentum-Christentum konzipiert hat.

Am Vorabend der 60. Wiederkehr der Reichspogromnacht am 9. November 1938 betonte der stellvertretende Landrat Heinz Rolfes, daß jeder einzelne seinen Beitrag dazu leisten könne, damit sich solche Geschehnisse nicht mehr wiederholten. Dies fange schon in der Art und Weise an, wie man über den anderen spreche. ,,Sich verächtlich zu äußern, ist im Grunde genommen schon der erste Schritt auf dem Weg, Hemmungen abzulegen und Gewalt anzuwenden”, meinte Rolfes. Dagegen setzte der stellvertretende Landrat die Pflicht, sich für andere verantwortlich zu zeigen, ,,und dies so weit, daß man auch das letzte Stück Brot miteinander teilen würde”.

Oberbürgermeisterin Ursula Ramelow und Stadtarchivar Dr. Ludwig Remling wiesen in ihren Ansprachen auf die Geschichte der jüdischen Schule hin, die 1878, zeitgleich mit der Synagoge, auf dem damaligen Grundstück der jüdischen Gemeinde am Gertrudenweg 1 errichtet worden war. Die Schule sei ein einfaches Gebäude, erläuterte Dr. Remling. ,,Doch gerade in ihrer Schlichtheit ist sie ein sprechendes Symbol für die Geschichte der Synagogengemeinde Lingen”, unterstrich der Historiker. Dr. Remling wies auch darauf hin, daß die Lingener Juden weder zum Großbürgertum noch zum Geldadel gehört hätten. Sie seien einfache Händler, kleine Geschäftsleute und Arbeiter gewesen wie viele andere Lingener auch.

Als vor 60 Jahren auch die Lingener Synagoge brannte, blieb unsere kleine Schule verschont”, blickte Ruth Foster auf ihre Kinder- und Jugendjahre in der Stadt zurück. Sie hätte nie gedacht, daß aus dem Gebäude und seinen Außenanlagen ein so würdiger Ort der Erinnerung werden würde. Ihren Dank sprach sie in diesem Zusammenhang insbesondere an Gertrud Anne Scherger vom Arbeitskreis Judentum-Christentum und Anne-Dore Jakob von der Pax Christi Gruppe aus.

Lehrer Speier aus Sögel habe die jüdischen Mädchen und Jungen die Gebete in hebräischer Sprache gelehrt, ließ Ruth Foster die Mittwochnachmittage und Sonntagvormittage in diesem Gebäude in den 20ger Jahren noch einmal lebendig werden. Zu ihrer Zeit seien es etwa zehn Kinder gewesen, sagte sie.

,,Jetzt sind nur noch Bernhard Grünberg und ich hier als einzige Zeugen des Holocaust, von dem niemand behaupten solle, daß es ihn nicht gegeben hätte”, sprach die 76jährige. Die Stadt Lingen ehre ihre toten jüdischen Mitbürger sehr, betonte Frau Foster. ,,Wenn auch deren Stimmen nicht mehr zu hören sind, so ist diese Jüdische Schule doch ein Denkmal für alle”, sagte sie abschließend.

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Lingener Tagespost | Jüdisches Leben zwischen 1928 und 1938

07 Samstag Nov 1998

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eine Zeitreise durch jüdische Geschichte in Lingen (Teil 1)

Ruth Heilbron neckte Lehrer besonders gern

Lingen im Jahr 1928

Sorgfältig schließen Jakob und Emma Wolff an einem kühlen Novembertag 1928 die Türe ihres Geschäftes neben der Apotheke am Markt 1 in Lingen. Es ist Donnerstag. Der Sabbat ist nicht mehr fern. Dieser in der jüdischen Zeitrechnung siebte Tag der Woche, von Freitag- bis Samstagabend, dient der Gemeinde als Erinnerung an Gottes Schöpfungswerk, wie es im ersten Buch Mose festgehalten ist. Da am Sabbat die Arbeit ruht, hat Emma Wolff nur noch an diesem Abend Zeit, die Synagoge am Gertrudenweg zu putzen.

Emma Wolff, geborene Eisenstein, ist eine überaus gewissenhafte Frau. In ihrem Geschäft für Weißwaren, Textil- und Handarbeitsbedarf ,,Geschw. Eisenstein” liegt alles ganz akkurat an seinem Platz. Natürlich wird bis zum Sabbat auch das letzte Staubkörnchen aus der Synagoge entfernt sein. Hinzu kommt, daß ihr Mann Jakob Synagogenvorsteher ist. Deshalb steht Emma Wolff doppelt in der Pflicht.

Die beiden treten auf die Straße und gehen durch die Lookenstraße Richtung Gertrudenweg. Unterwegs begegnen ihnen einige Menschen. Die Männer unter ihnen lüften höflich die Hüte oder tippen mit ihrer Hand an die Schirmmütze. Jakob und Emma Wolff sind geachtete Bürger der Stadt.

An der Ecke zum Gertrudenweg kommt die Synagoge in Sichtweite. Im Sommer ist das aus roten Ziegelsteinen bestehende Gebetshaus innerhalb des großen Gartens voller Apfelbäume kaum auszumachen. An diesem trüben Novembertag aber hat der Wind die Blätter der Bäume auf die holprigen Lingener Straßen geweht. Dort haben die Pferdefuhrwerke tiefe Rillen hinterlassen.

Als die Eheleute Wolff die Hecke am Gertrudenweg 1 erreicht haben, die das 120 Quadratmeter große Grundstück der jüdischen Gemeinde umschließt, tritt ein Mann durch das schmiedeeiserne Tor neben dem Gebäude auf sie zu. Es ist Moses Speier, Religionslehrer an der jüdischen Schule, die sich direkt hinter der Synagoge befindet. ,,Na Moses, was machen die Kinder?”, fragt Jakob Wolff. Der Lehrer verdreht ein wenig die Augen. Gestern nachmittag hatte er wieder ein paar vom Unterricht ausschließen müssen, weil sie in der Stunde störten.

Die jüdischen Mädchen und Jungen aus Lingen, die die evangelische Volksschule besuchen, gehen Mittwochnachmittag und Sonntagvormittag in die aus einem einzigen Raum bestehende jüdische Schule, um dort am Religionsunterricht teilzunehmen. Die kleine Ruth Heilbronn, die besonders gern ihren Schabernack mit dem Lehrer treibt, ist eine von ihnen. ,,Ich red’ mal mit Wilhelm”, beschwichtigt Jakob Wolff Lehrer Speier. Er nimmt sich vor, Ruths Vater, einen Viehhändler aus der Kaiserstraße, in den nächsten Tagen zu besuchen.

Nun laß man gut sein”, beruhigt Emma Wolff ihren Mann und erinnert ihn daran, daß die kleine Heilbronn sich besonders eifrig eingesetzt hatte, als es vor einigen Wochen galt, das 50jährige Bestehen der Synagoge und der Schule zu feiern. Schule und Gebetshaus waren im Jahre 1878 errichtet worden. Ruth Heilbronn gehörte zu den Blumenmädchen, die bei der Feier auf der Wilhelmshöhe ein Lied vortrugen. ,,Die Blümelein, sie schlafen schon längst im Mondenschein…” sangen die Kinder und bekamen viel Applaus dafür. Das Jubiläumsfest war ein stolzer Tag für die kleine jüdische Gemeinde gewesen, groß angekündigt im ,,Lingener Volksboten”.

Lingen im Jahr 1938

Die dunkle Nacht vom 9. auf den 10. November wird gegen 2 Uhr morgens am Gertrudenweg gespenstisch erhellt. Die Synagoge brennt. Auch in Lingen gibt es genug Bürger, die tun, was der Führer und seine Schreibtischtäter befehlen. Morgens um sechs Uhr wird gar noch die schwere Eisentür des Gebetshauses gewaltsam aufgebrochen, damit das Feuer auch genügend Sauerstoff für sein Vernichtungswerk bekommt. Das Gebäude liegt in Schutt und Asche.

Als Synagogenvorsteher Jakob Wolff von dem Brand hört, will er sich sofort auf den Weg machen. Der inzwischen 60jährige wohnt mit seiner Frau in der Marienstraße 4. Doch Jakob Wolff bleibt an diesem 10. November 1938 keine Zeit, sich selbst ein Bild von der Zerstörung zu machen. Er wird noch am frühen Morgen in Schutzhaft genommen, ebenso Wilhelm Heilbronn, dessen inzwischen fast erwachsene Tochter Ruth zu dieser Zeit in Berlin wohnt. Ein großer Teil der in Lingen wohnenden jüdischen Männer und Frauen werden verhaftet und zur Stadtwache geführt. Die Frauen werden später wieder freigelassen.

Das Geschäft von Fredy Markreich in der Großen Straße wird geplündert. Für die Beseitigung der Schäden muß er selbst aufkommen. Um die 6000 Reichsmark bezahlen zu können, ist er gezwungen, Haus und Grundstück in der Großen Straße zu verkaufen.

Synagogenvorsteher Wolff und Viehhändler Heilbronn werden mit vier weiteren Lingener Juden in das Konzentrationslager Buchenwald verschleppt. Nach sechs Wochen, Ende Dezember 1938, kommen sie wieder nach Hause, kahlgeschoren, gedemütigt und mißhandelt.

Als Wolff wieder etwas bei Kräften ist, treibt es ihn zur Synagoge, oder zu dem, was von ihr noch übriggeblieben ist. Er läuft von seinem Haus in der Marienstraße Richtung Bahnhof und biegt kurz vorher rechts ab. Dort verlangsamt der nunmehr schwerkranke Mann seinen Schritt und schlägt den Mantelkragen hoch. Für einen Juden in Lingen ist es in dieser Zeit sehr gefährlich geworden, auf offener Straße erkannt zu werden.

Dann steht der letzte Synagogenvorsteher Lingens am Gertrudenweg 1. Tränen rinnen ihm über die Wange. Verstohlen wischt er sie mit dem Mantelärmel weg. Sein Blick wandert über die Mauerreste der Synagoge. Dahinter steht die jüdische Schule völlig unversehrt. Doch Freude darüber kann bei Jakob Wolff nicht aufkommen. Nur zu gut weiß er, daß der kleine Bau von den Nationalsozialisten ebenfalls am liebsten zerstört worden wäre. Doch das wäre zu riskant gewesen, hätten doch die angrenzenden Gebäude der Nachbarn ebenfalls in Flammen aufgehen können…

Von den erlittenen Qualen im Konzentrationslager erholte sich Jakob Wolff nicht mehr. Nach seiner Rückkehr aus Buchenwald hatte er noch den Verkauf des Grundstücks der jüdischen Gemeinde am Gertrudenweg abwickeln müssen. Die Schule ging 1939 in Privatbesitz über. Der kleine Raum von etwa 30 Quadratmetern, in dem noch Ende der 20er Jahre Ruth Heilbronn als junges Mädchen das Glaubensbekenntnis ,,Sch’ma Jisrael…Höre Israel” gesprochen hatte, diente danach als Pferdestall und Schuppen. Wolff starb am 4. April 1941 und wurde unter unwürdigen Umständen auf dem jüdischen Friedhof begraben. Das Schicksal seiner Frau Emma blieb ihm immerhin erspart. Sie wurde im Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert und am 11. Juli 1944 in Auschwitz ermordet. Und nicht nur sie…

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Lingener Tagespost | In 30 Jahren: Eine neue Synagoge am Hanauerplatz

07 Samstag Nov 1998

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eine Zeitreise durch jüdische Geschichte in Lingen (Teil 2)

1978 bis 2028: Arbeitskreis Judentum-Christentum und Stadt Lingen setzen durch großes Engagement Maßstäbe

Lingen im Jahr 1978

40 Jahre sind vergangen, seitdem Jakob Wolff vor den Trümmern der Synagoge stand und für einen Moment den Blick auf die unversehrte jüdische Schule ruhen ließ. In Lingen gibt es keine jüdische Gemeinde mehr. Nur wenige Juden haben den Holocaust überlebt. Sie wohnen heute in Großbritannien oder in den USA. Die meisten Familien wurden ausgelöscht – in Auschwitz, Riga, Theresienstadt…

Der Blick auf den kleinen Schulbau der jüdischen Gemeinde ist inzwischen durch eine Häuserzeile am Gertrudenweg verwehrt. Das neben dem jüdischen Friedhof einzige noch sichtbare Zeugnis der jüdischen Geschichte in Lingen droht zu zerfallen. Nachzulesen ist diese Geschichte auch nirgendwo. Die Stadt Lingen hat zwar einen opulenten Wälzer über ihre 1000jährige Geschichte von 975 bis 1975 herausgegeben, aber darin mit keiner Zeile das tief in der Stadt verwurzelte und erst durch die Nationalsozialisten zerstörte jüdische Gemeindeleben erwähnt.

Doch inzwischen machen sich erste Zeichen des Wandels im Umgang mit der eigenen Geschichte bemerkbar. Am 15. November 1977 hatte die Stadt Lingen auf einem unbebauten Grundstück im Häuserdreieck Gertrudenweg/Konrad-Adenauer-Ring einen Gedenkstein zur Erinnerung an die Zerstörung der Synagoge aufgestellt.

Lingen im Jahr 1998

Seit 1989 heißt der Gertrudenweg Synagogenstraße. Doch nicht nur dies kennzeichnet das Bemühen in Lingen, mit der Vernichtung der Juden im Dritten Reich nicht auch noch die Erinnerung an sie auszulöschen. Treibende Kraft ist der Arbeitskreis Judentum-Christentum. Seine Mitglieder haben nicht vergessen, was hinter dem Häuserdreieck am Konrad-Adenauer-Ring verborgen lag – ein einfaches Bauwerk von hohem historischem Wert. Dank enormer finanzieller Anstrengungen der Stadt kommt die ehemalige jüdische Schule in den Besitz der Kommune – und damit ihrer Bürger, die sich dem Gebäude und seiner Geschichte verbunden fühlen. So war denn auch der 8. November ein großer Tag für die Stadt Lingen, als der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, die restaurierte Schule an der Jakob-Wolff-Straße (vormals An der Kokenmühle) persönlich einweihte.

Lingen, 7. November 2028

Am Hanauerplatz in Lingen sind die Arbeiten der Handwerker beendet. Die neue Synagoge in der Innenstadt erstrahlt in schlichtem Glanz. Morgen feiert die jüdische Gemeinde in Lingen auf der Wilhelmshöhe die Einweihung des Gebetshauses und gleichzeitig den 150. Jahrestag der Errichtung der ersten Synagoge und der jüdischen Schule am damaligen Gertrudenweg.

Nach der Jahrtausendwende war von Osteuropa aus ein verstärkter Zuzug von Menschen jüdischen Glaubens nach Deutschland erfolgt, von denen sich auch eine ganze Reihe im südlichen Emsland niederließ. Sie schlossen sich in Lingen zu einer Gemeinde zusammen. Rat und Verwaltung stellten ihr ein Grundstück zur Verfügung, auf dem sie ihre Synagoge bauen konnte.

100 Jahre nach dem Spaziergang von Jakob und Emma Wolff vom Markt durch die Lookenstraße Richtung Synagoge und Schule sind Juden in Lingen wieder ein Teil der Bürgerschaft. Die Stadt erlebt ein neues Kapitel ihrer Geschichte.

Bilder aus unbeschwerten Kindertagen in Lingen: Bernhard Grünberg und Ruth Heilbronn (heute Foster), die ihre Familien im Holocaust verloren.

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Lingener Tagespost | Opfer kamen aus der Nachbarschaft

06 Freitag Nov 1998

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Gertrud Anne Scherger zeichnete Leidenswege jüdischer Mitbürger nach

Von Thomas Pertz

Die Zahl der jüdischen Bürger, die dem Nationalsozialismus zum Opfer fielen, sprengt jedes menschliche Vorstellungsvermögen. Kein Mensch kann sich Millionen Tote vorstellen – gefoltert, vergast, erschossen. Die Gefahr ist deshalb groß, daß die Bereitschaft, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen, in dem Maße abnimmt, wie das Grauen wächst, bis es nicht mehr darstellbare Dimensionen erreicht. Aber was ist, wenn die Opfer aus der Nachbarschaft kamen, aus der Marienstraße, Lookenstraße oder Kaiserstraße? In der Transformation des Unfaßbaren hinein ins private Umfeld liegt die besondere Leistung von Gertrud Anne Scherger. ,,Verfolgt und Ermordet” ist der Titel ihres Beitrages zur Verfolgungsgeschichte der Juden aus dem Raum Lingen, der ab heute im Buchhandel erhältlich ist.

Mit der Arbeit der Lingenerin, Mitglied im Arbeitskreis Judentum-Christentum, über die Leidenswege jüdischer Bürger in der Emigration, während der Deportation, im Ghetto und in den Konzentrationslagern, schließt sich ein Kreis. 1991 hatten Gertrud Anne Scherger und Anne-Dore Jakob (Pax Christi Gruppe Lingen) in der Ausstellung ,,Verfolgt – deportiert – ermordet, Deportationen nach Riga und Theresienstadt” Lingener Familien jüdischen Glaubens aus der Anonymität der millionenfachen Vernichtung herausgehoben und ,,sichtbar” gemacht. Das Gleiche gelang ihnen fünf Jahre später mit der Darstellung von Emigrantenschicksalen jüdischer Mitbürger aus Lingen.

Die am heutigen Freitag um 17 Uhr im Emslandmuseum vorgestellte Dokumentation ,,Verfolgt und ermordet” ist eine durch Gespräche mit Zeitzeugen, Fotos und Dokumente laufend ergänzte Zusammenfassung dieser Ausstellungen – aber nicht durch die Brille des akademischen Oberrates gesehen. Bestrebungen der Schulen, bei der Behandlung des Holocausts im Unterrichts verstärkt die Regionalgeschichte heranzuziehen, möchte die 63jährige pensionierte Lehrerin mit ihrer Arbeit unterstützen. Die Dokumentation ist deshalb verständlich geschrieben, damit der Inhalt ohne große Schwierigkeiten nachvollziehbar wird.

Der große Wert der Arbeit von Gertrud Anne Scherger liegt auch darin, daß sie das Brennglas ihrer Forschung nicht ausschließlich auf jene Jahre von 1933 bis 1945 hält, die zur Auslöschung der jüdischen Gemeinde in Lingen führten. In ihrer Darstellung der ersten Spuren jüdischen Lebens im Lingener Raum, die sich bereits Anfang des 18. Jahrhunderts finden lassen, beschreibt sie die tiefe Verwurzelung der Glaubensgemeinschaft in der Kommune. Auch ihre Erläuterungen zur Religionsausübung der aus 14 Familien bestehenden jüdischen Gemeinde sind wichtig, weil Vorurteile nicht zuletzt das Resultat von Wissenslücken sind, die die Pädagogin schließen will.

Vor dem Auge des Lesers werden diese Väter und Mütter mit ihren Kindern wieder lebendig: die Cohens, Markreichs und Hanauers. Die Autorin zeichnet ihre Leidenswege einfühlsam nach, bewahrt den Leser nicht vor der Vorstellung jener unsäglichen Schmerzen, die die heute in den USA lebende 72jährige Leonie Hanauer spüren muß, wenn sie an ihre verlorene Heimatstadt Lingen denkt: ihre Brüder Eduard, Günther und Kurt wurden in Auschwitz getötet, ebenso wie ihre Eltern Hermann und Elsa.

So ist denn die Broschüre von Gertrud Anne Scherger neben vielem anderen vor allem auch dies: eine Aufforderung zur Wachsamkeit, zur bürgerlichen Zivilcourage, wenn am Stammtisch oder sonst wo wieder einer Ausgrenzung von ,,Fremden” das Wort geredet wird.

,,Verfolgt und ermordet”, Lingen 1998, 120 Seiten, 19.80 DM, erhältlich bei Bücher Holzberg, van Acken, ,,Buchladen im Rathaus”, Zauberberg und Bücherinsel im Multistore.

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Lingener Tagespost | Mangel an Wissen führt zur Ausbreitung von Haß

05 Donnerstag Nov 1998

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Israelischer Botschaftssekretär Menahem Kanafi besuchte den Altkreis Lingen – Diskussion in Schule – Besuch des Jüdischen Friedhofs

Lingen (pe)
Die Beschreibung der Ursachen des Holocausts wird wahrscheinlich ganze Bibliotheken füllen. Menahem Kanafi faßte die Gründe vor fast 100 Jugendlichen aus der Oberstufe des Lingener Franziskus-Gymnasiums in einem Satz zusammen: ,,Der Mangel an Wissen ist einer der wichtigsten Faktoren, die zur Ausbreitung des Antisemitismus geführt haben”, meinte der Zweite Sekretär und Leiter der Öffentlichkeitsarbeit der israelischen Botschaft in Bonn. Der 32jährige Jurist hielt sich auf Einladung der Evangelischen Erwachsenenbildung (EEB) einen Tag lang im Altkreis Lingen auf

In der Weitergabe von Wissen über den Staat Israel, seine Religion und Kultur, sieht Kanafi denn auch eine zentrale Aufgabe seiner Arbeit. Er will Verständnis wecken für das Sicherheitsbedürfnis eines Landes, das das Mittelmeer im Rücken und Gegner aus der arabischen Welt vor sich hat. Eine wichtige Rolle kommt in diesem Zusammenhang nach seiner Auffassung den christlich-jüdischen Gesellschaften in Deutschland zu, die wechselseitig dazu beitragen würden, Unwissenheit übereinander in Wissen voneinander zu verwandeln. Diesem Auftag kommt in der Stadt Lingen der Arbeitskreis Judentum-christentum seit vielen Jahren nach.

,,Die Unwissenheit war eine Vorbedingung für den Ausbruch der Pogrome”, schlug der Botschaftssekretär in seinen Ausführungen auch einen Bogen hin zu den Ereignissen in Deutschland vor 60 Jahren. Unkenntnis sei eine Basis für Haß, der schließlich in den Holocaust und in die millionenfache Vernichtung der Juden geführt habe. Wichtig sei es daher, daß die Menschen, Christen und Juden, mehr voneinander erführen. Sie sollten in einen offenen Dialog eintreten.

Das taten die jungen Leute und Kanafi nach seinem Vortrag denn auch, moderiert von Geschichtslehrer Jürgen Königschulte. Im Mittelpunkt der Diskussion standen die aktuellen Friedensgespräche zwischen Israel und der PLO. Zu diesem Friedensprozeß gebe es keine Alternative, meinte Kanafi. Die Palästinenser müßten ihr Leben selbst verwalten dürfen. ,,Aber gleichzeitig müssen wir alles tun, daß die antisemitischen Gefühle in der arabischen Welt in der Praxis nicht zum Tragen kommen”, warb der Israeli um Verständnis für die Bedeutung der Sicherheitspolitik in jeder israelischen Regierung.

Ein Schüler fragte in diesem Zusammenhang, ob nicht auch die Siedlungspolitik in Israel ein Grund für die Ursache von gewalttätigen Auseinandersetzungen sei und ob nicht die Siedlungsbewegung zu viel Einfluß auf die Regierungspolitik ausübe. Kanafi räumte ein, daß die Siedlungsbewegung ein Problem mit dem Friedensvertrag habe. Tatsächlich stelle sie aber nur eine Minderheit in der israelischen Bevölkerung dar. Auf der anderen Seite ermögliche das israelische Wahlrecht, das keine 5-Prozent-Hürde kenne, auch kleinen Gruppen den Einzug ins Parlament (Knesset). Da die aktuelle Regierung Netanjahu nur über eine äußerst knappe Mehrheit verfüge, könnten die Splittergruppen in der Knesset das Zünglein an der Waage spielen.

Von der großen Politik des Staates Israel zur regionalen jüdischen Geschichte waren es im Anschluß an die Diskussion im Franziskus-Gymnasium für Menahem Kanafi nur ein paar Kilometer. An der Weidestraße in Lingen besuchte er den Jüdischen Friedhof. Vor den Grabsteinen der jüdischen Familien aus Lingen und Umgebung ließ Gertrud Anne Scherger vom Arbeitskreis Judentum-Christentum in ihren Erläuterungen die Erinnerung an jene wieder lebendig werden, deren Biographien der Nationalsozialismus zerstörte hat – wie die von Bendix, Marianne und Gerda Grünberg zum Beispiel. Der einzige Überlebende aus dieser Familie, Bernhard Grünberg, wird am Sonntag vor dem Gedenkstein für seine Eltern und seine Schwester stehen, die im Getto von Riga und im KZ Stutthof starben.

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Lingener Tagespost | Kanal: Jedes Zeichen von Intolleranz abwehren

28 Dienstag Jan 1997

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,,Auschwitz Teil des Menschen” – Jugend engagierte sich

Von Thomas Pertz

Lingen
Ein kalter Wind wehte am Montagmorgen über den jüdischen Friedhof an der Weidestraße in Lingen. Fröstelnd zogen sich die Besucher ihre Mäntel über. Der 27. Januar, Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz vor 52 Jahren, ist in diesem Augenblick kein Tag zum Fröhlichsein, und das soll er auch nicht.

Über den Friedhof, dessen alter Baumbestand die Würde dieses heiligen Ortes noch unterstreicht, führte Anne Scherger vom Arbeitskreis Judentum-Christentum den Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Berlins, Jerzy Kanal, und die übrigen Besucher. Der Arbeitskreis hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Lingen in Erinnerung zu halten und dies in der Vergangenheit auf vielfältige Art und Weise deutlich gemacht.

Die gepflegte Erscheinung des Friedhofes, der im Jahre 1734 zum ersten Mal erwähnt wurde und vor einigen Jahren nicht nur dem Zahn der Zeit, sondern auch der Zerstörungswut von Unbelehrbaren zum Opfer zu fallen drohte, ist dem Einsatz des Arbeitskreises zu verdanken. Auf landesweites Interesse stieß im vergangenen Jahr seine Ausstellung ,,Verfolgt- emigriert-ermordet” über das Schicksal von Lingener Juden zwischen 1939 und 1945.

Jerzy Kanal zeigte sich sehr beeindruckt von den Ausführungen Ruth Schergers auf dem Friedhof. Entscheidend sei, daß das Wissen des Arbeitskreises und die daraus resultierende Verpflichtung, das Geschehen in Erinnerung zu halten, auch an jüngere Menschen weitergegeben werde, betonte der 75jährige.

Mehrere hundert Menschen begrüßten Kanal anschließend bei der Holocaustgedenkveranstaltung auf der Wilhelmshöhe mit warmherzigem Applaus. Dem 75jährigen war es überaus wichtig gewesen, nach Lingen zu kommen. Der Berliner hatte sich vor einiger Zeit bei einem Unfall einen Arm und mehrere Rippen gebrochen und trug den linken Unterarm in einer Schlinge. Kanal wollte es aber offensichtlich nicht zulassen, daß äußere Verletzungen ihn daran hindern sollten, in Lingen von seinen inneren Verletzungen zu erzählen.

Er habe Auschwitz nicht überlebt, um zu Unrecht zu schweigen, zitierte Kanal in seiner Rede den verstorbenen Amtsvorgänger Heinz Galinski. ,,Wir tragen unsere Leidenserfahrung als eine Mahnung in uns und fühlen die Verpflichtung, eine solche Erfahrung jedem heute oder in der Zukunft lebenden Menschen zu ersparen”.

Die Opfer des Nationalsozialismus seien nicht nur Juden und der Ort der Verbrechen nicht nur Auschwitz gewesen, sagte Kanal. Aber beide Begriffe seien ein Synonym für die unvorstellbaren, menschenverachtenden und tödlichen Gewalttaten der Nationalsozialisten. ,,Als ehemaliger Auschwitzhäftling erlaube ich mir, Ihnen folgendes zu sagen: Auschwitzhäftlinge haben nicht nur das für jeden sichtbare Zeichen einer Tätowierung am linken Unterarm. Auschwitz ist ein Teil des Menschen, der es überlebt hat. Es beeinflußt sein Tun und begleitet ihn bis ans Ende seiner Tage.”

Der jüngeren Generation sagte er, daß es im Zusammenhang mit den Verbrechen des Nationalsozialismus nicht um eine Schuldfrage gehe. Menschen, die zum Zeitpunkt der Verbrechen noch nicht geboren waren, könnten nicht die Schuld für diese Taten tragen. ,,Ihre Verantwortung besteht allerdings darin, all ihre Kraft einzusetzen und dafür Sorge zu tragen, daß in diesem Lande die demokratische Entwicklung und die Beachtung von Menschenrechten weiterhin gesichert werden”, unterstrich Kanal.

Abschließend forderte der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Berlins die auf der Wilhelmshöhe ebenfalls anwesenden jugendlichen Zuhörer auf, im demokratischem Selbstbewußtsein dafür zu arbeiten, daß die Erinnerung an die Vergangenheit wachbleibe und sich die Greueltaten nicht wiederholten. ,,Treten Sie jedem auch noch so kleinem Anzeichen von Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus entschieden entgegen und kämpfen Sie für die demokratischen Grundsätze, die unerläßlich sind für ein freies und friedliches Miteinander.”

Es wird Jerzy Kanal gefreut haben, daß sich im Vorfeld dieses Holocaustgedenktages in Lingen auch Schüler aus der Stadt intensiv mit diesem Thema auseinandergesetzt haben. So erinnerten Eike Hoff und Sebastian Alke, Schüler der Marienschule, an die ,,Notgemeinschaft Lingen 1931″, einer Hilfsaktion am Ende der Weimarer Republik, in der sich auch der Lingener Synagogenvorsteher Jacob Wolff engagierte. Marina Kramer, Monika Moss, Daniela Helmer und Katrin Schauer von der Friedensschule lasen die Erzählung ,,Reise ohne Wiederkehr” vor.

Im Mittelpunkt steht die Geschichte eines 15jährigen Jungen, der nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wird. Vielleicht war es der Junge, den Jerzy Kanal während seiner Leidenszeit in dem Konzentrationslager gesehen hat, als ein Jugendlicher, den Tod in der Gaskammer vor Augen, auf der Ladefläche eines abfahrbereiten Lkw stand, die Hand zur Faust hob und ihm zurief: ,,Ich bin stolz darauf, ein Jude zu sein.”

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Lingener Tagespost | Gedenkstein auf dem jüdischen Friedhof in Lingen errichtet

11 Samstag Mai 1996

Posted by forumjc in 1996 - 2000, Archiv

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Tränen flossen beim hebräischen Totengebet für die Eheleute Wolff

Lingen (pe)
Der hebräische Totengesang von Rabbiner Marc Stern auf dem jüdischen Friedhof in Lingen ging den Zuhörern unter die Haut, einige hatten Tränen in den Augen. Nicht nur deswegen, weil die für sie fremde Sprache des Rabbiners von der Jüdischen Gemeinde Osnabrück noch über einen Lautsprecher verstärkt über den Friedhof hallte. Das Totengebet am Gedenkstein für Jakob und Emma Wolff hatte am Donnerstagabend seine Wirkung vor allem darin, daß die einzigen für die Teilnehmer verständlichen Worte die Namen von Konzentrationslagern und Gettos waren: Auschwitz, Majdanek, Stutthof, Riga…

Die Feier zur Steinsetzung des letzten Synagogenvorstehers der jüdischen Gemeinde Lingens und seiner in Auschwitz ermordeten Ehefrau bildete einen würdigen Abschluß der Ausstellung „Verfolgt-Deportiert-Ermordet”, die noch bis zum morgigen Sonntag im Lingener Emslandmuseum zu sehen ist.

Der Arbeitskreis Judentum-Christentum habe im vergangenen Herbst im Zusammenhang mit der Restaurierung dieses Friedhofs die Idee gehabt, einen Gedenkstein für Jakob und Emma Wolff aufzustellen, sagte der Vorsitzende des Arbeitskreises, Pastor Wolfgang Becker, einleitend. „Unsere Motive dabei waren, Jakob Wolff, der Anfang April 1941 unter unwürdigen Umständen auf diesem Friedhof bei Nacht und Nebel beerdigt wurde, und Emma Wolff, die ohne Grab geblieben ist, ein ehrendes Andenken zu errichten.” Zu diesem Zwecke habe der Arbeitskreis die Lingener Bevölkerung und speziell die christlichen Gemeinden zu Spenden aufgerufen. „Es ist alles gut geworden”, sagte Becker mit Blick auf den Stein für die beiden Eheleute, deren Biographie durch die Machtergreifung der Nationalsozialisten eine so leidvolle Wendung genommen hatte.

Darauf wies Anne Scherger in ihrem Vortrag hin, der das Leben von Jakob und Emma Wolff noch einmal in Erinnerung rief. Emma Wolff, deren Weißwarengeschäft „ „Geschwister Eisenstein” am Markt 1 allen Lingenern gut bekannt war, mußte miterleben, wir ihr Mann in der Pogromnacht am 9. November 1938 nach der Zerstörung der Lingener Synagoge verhaftet und in das Konzentrationslager Buchenwald verschleppt wurde. Seit 1925 war Jakob Wolff Synagogenvorsteher, hatte diese selbst geputzt und gepflegt. Nun stand er vor deren Trümmerhaufen. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich. Am 4. April 1941 starb Wolff im Alter von 63 Jahren. Emma Wolff wurde im Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert. Im Herbst des gleichen Jahres begannen die Deportationen nach Auschwitz. Mit großer Wahrscheinlichkeit war auch Emma Wolff unter den 18000 alten jüdischen Menschen, die in das Vernichtungslager gekarrt wurden. „Verschollen in Auschwitz”, heißt es in den Akten. „Wir wissen heute, was das bedeutet: Ermordung in der Gaskammer und Bestattung in der Anonymität eines Massengrabes”, sagte Anne Scherger. Nun sei Emma Wolff aber der Anonymität entrissen worden, denn ihr Name stehe mit auf dem Grabstein ihres auf diesem Friedhof begrabenen Mannes. „Emma Wolff hatte keine Möglichkeit, für ihren Mann einen Grabstein aufzustellen. Das haben wir jetzt nachgeholt – nach 55 Jahren.”

Lingens Erster Bürgermeister Benedikt Wilbers dankte dem Arbeitskreis Judentum-Christentum für dessen Bemühen, die Erinnerung an die jüdische Gemeinde in der Stadt wachzuhalten. Niemals dürften die Verbrechen der Nazidiktatur als Vergangenes zu den Akten gelegt werden. Der Schmerz lebe weiter. „Und dieser Schmerz muß immer wieder ausgesprochen werden. Das ist die einzige Hoffnung darauf, daß eine derartige Mißachtung und Mißhandlung von Menschen nicht wieder vorkommt.”

Sie danke allen, die diesen guten Leuten die Ehre erwiesen, die ihnen gebühre, sagte Ruth Foster, geborene Heilbronn, am Gedenkstein für Jakob und Emma Wolff. Die Überlebende des Holocaust kann sich noch gut an das Ehepaar erinnern, „das ein Teil unserer Kindheit war”. Beide seien gute Bürger und gläubige Juden gewesen. „Mögen ihre Seelen in Frieden ruhen, Schalom”.

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