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eine Zeitreise durch jüdische Geschichte in Lingen (Teil 1)

Ruth Heilbron neckte Lehrer besonders gern

Lingen im Jahr 1928

Sorgfältig schließen Jakob und Emma Wolff an einem kühlen Novembertag 1928 die Türe ihres Geschäftes neben der Apotheke am Markt 1 in Lingen. Es ist Donnerstag. Der Sabbat ist nicht mehr fern. Dieser in der jüdischen Zeitrechnung siebte Tag der Woche, von Freitag- bis Samstagabend, dient der Gemeinde als Erinnerung an Gottes Schöpfungswerk, wie es im ersten Buch Mose festgehalten ist. Da am Sabbat die Arbeit ruht, hat Emma Wolff nur noch an diesem Abend Zeit, die Synagoge am Gertrudenweg zu putzen.

Emma Wolff, geborene Eisenstein, ist eine überaus gewissenhafte Frau. In ihrem Geschäft für Weißwaren, Textil- und Handarbeitsbedarf ,,Geschw. Eisenstein” liegt alles ganz akkurat an seinem Platz. Natürlich wird bis zum Sabbat auch das letzte Staubkörnchen aus der Synagoge entfernt sein. Hinzu kommt, daß ihr Mann Jakob Synagogenvorsteher ist. Deshalb steht Emma Wolff doppelt in der Pflicht.

Die beiden treten auf die Straße und gehen durch die Lookenstraße Richtung Gertrudenweg. Unterwegs begegnen ihnen einige Menschen. Die Männer unter ihnen lüften höflich die Hüte oder tippen mit ihrer Hand an die Schirmmütze. Jakob und Emma Wolff sind geachtete Bürger der Stadt.

An der Ecke zum Gertrudenweg kommt die Synagoge in Sichtweite. Im Sommer ist das aus roten Ziegelsteinen bestehende Gebetshaus innerhalb des großen Gartens voller Apfelbäume kaum auszumachen. An diesem trüben Novembertag aber hat der Wind die Blätter der Bäume auf die holprigen Lingener Straßen geweht. Dort haben die Pferdefuhrwerke tiefe Rillen hinterlassen.

Als die Eheleute Wolff die Hecke am Gertrudenweg 1 erreicht haben, die das 120 Quadratmeter große Grundstück der jüdischen Gemeinde umschließt, tritt ein Mann durch das schmiedeeiserne Tor neben dem Gebäude auf sie zu. Es ist Moses Speier, Religionslehrer an der jüdischen Schule, die sich direkt hinter der Synagoge befindet. ,,Na Moses, was machen die Kinder?”, fragt Jakob Wolff. Der Lehrer verdreht ein wenig die Augen. Gestern nachmittag hatte er wieder ein paar vom Unterricht ausschließen müssen, weil sie in der Stunde störten.

Die jüdischen Mädchen und Jungen aus Lingen, die die evangelische Volksschule besuchen, gehen Mittwochnachmittag und Sonntagvormittag in die aus einem einzigen Raum bestehende jüdische Schule, um dort am Religionsunterricht teilzunehmen. Die kleine Ruth Heilbronn, die besonders gern ihren Schabernack mit dem Lehrer treibt, ist eine von ihnen. ,,Ich red’ mal mit Wilhelm”, beschwichtigt Jakob Wolff Lehrer Speier. Er nimmt sich vor, Ruths Vater, einen Viehhändler aus der Kaiserstraße, in den nächsten Tagen zu besuchen.

Nun laß man gut sein”, beruhigt Emma Wolff ihren Mann und erinnert ihn daran, daß die kleine Heilbronn sich besonders eifrig eingesetzt hatte, als es vor einigen Wochen galt, das 50jährige Bestehen der Synagoge und der Schule zu feiern. Schule und Gebetshaus waren im Jahre 1878 errichtet worden. Ruth Heilbronn gehörte zu den Blumenmädchen, die bei der Feier auf der Wilhelmshöhe ein Lied vortrugen. ,,Die Blümelein, sie schlafen schon längst im Mondenschein…” sangen die Kinder und bekamen viel Applaus dafür. Das Jubiläumsfest war ein stolzer Tag für die kleine jüdische Gemeinde gewesen, groß angekündigt im ,,Lingener Volksboten”.

Lingen im Jahr 1938

Die dunkle Nacht vom 9. auf den 10. November wird gegen 2 Uhr morgens am Gertrudenweg gespenstisch erhellt. Die Synagoge brennt. Auch in Lingen gibt es genug Bürger, die tun, was der Führer und seine Schreibtischtäter befehlen. Morgens um sechs Uhr wird gar noch die schwere Eisentür des Gebetshauses gewaltsam aufgebrochen, damit das Feuer auch genügend Sauerstoff für sein Vernichtungswerk bekommt. Das Gebäude liegt in Schutt und Asche.

Als Synagogenvorsteher Jakob Wolff von dem Brand hört, will er sich sofort auf den Weg machen. Der inzwischen 60jährige wohnt mit seiner Frau in der Marienstraße 4. Doch Jakob Wolff bleibt an diesem 10. November 1938 keine Zeit, sich selbst ein Bild von der Zerstörung zu machen. Er wird noch am frühen Morgen in Schutzhaft genommen, ebenso Wilhelm Heilbronn, dessen inzwischen fast erwachsene Tochter Ruth zu dieser Zeit in Berlin wohnt. Ein großer Teil der in Lingen wohnenden jüdischen Männer und Frauen werden verhaftet und zur Stadtwache geführt. Die Frauen werden später wieder freigelassen.

Das Geschäft von Fredy Markreich in der Großen Straße wird geplündert. Für die Beseitigung der Schäden muß er selbst aufkommen. Um die 6000 Reichsmark bezahlen zu können, ist er gezwungen, Haus und Grundstück in der Großen Straße zu verkaufen.

Synagogenvorsteher Wolff und Viehhändler Heilbronn werden mit vier weiteren Lingener Juden in das Konzentrationslager Buchenwald verschleppt. Nach sechs Wochen, Ende Dezember 1938, kommen sie wieder nach Hause, kahlgeschoren, gedemütigt und mißhandelt.

Als Wolff wieder etwas bei Kräften ist, treibt es ihn zur Synagoge, oder zu dem, was von ihr noch übriggeblieben ist. Er läuft von seinem Haus in der Marienstraße Richtung Bahnhof und biegt kurz vorher rechts ab. Dort verlangsamt der nunmehr schwerkranke Mann seinen Schritt und schlägt den Mantelkragen hoch. Für einen Juden in Lingen ist es in dieser Zeit sehr gefährlich geworden, auf offener Straße erkannt zu werden.

Dann steht der letzte Synagogenvorsteher Lingens am Gertrudenweg 1. Tränen rinnen ihm über die Wange. Verstohlen wischt er sie mit dem Mantelärmel weg. Sein Blick wandert über die Mauerreste der Synagoge. Dahinter steht die jüdische Schule völlig unversehrt. Doch Freude darüber kann bei Jakob Wolff nicht aufkommen. Nur zu gut weiß er, daß der kleine Bau von den Nationalsozialisten ebenfalls am liebsten zerstört worden wäre. Doch das wäre zu riskant gewesen, hätten doch die angrenzenden Gebäude der Nachbarn ebenfalls in Flammen aufgehen können…

Von den erlittenen Qualen im Konzentrationslager erholte sich Jakob Wolff nicht mehr. Nach seiner Rückkehr aus Buchenwald hatte er noch den Verkauf des Grundstücks der jüdischen Gemeinde am Gertrudenweg abwickeln müssen. Die Schule ging 1939 in Privatbesitz über. Der kleine Raum von etwa 30 Quadratmetern, in dem noch Ende der 20er Jahre Ruth Heilbronn als junges Mädchen das Glaubensbekenntnis ,,Sch’ma Jisrael…Höre Israel” gesprochen hatte, diente danach als Pferdestall und Schuppen. Wolff starb am 4. April 1941 und wurde unter unwürdigen Umständen auf dem jüdischen Friedhof begraben. Das Schicksal seiner Frau Emma blieb ihm immerhin erspart. Sie wurde im Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert und am 11. Juli 1944 in Auschwitz ermordet. Und nicht nur sie…

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