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Am 9. November 2012 fand in Lingen wie alljährlich eine Veranstaltung zum Gedenken an den Novemberpogrom von 1938 statt. Dr. Heribert Lange sprach als geschäftsführender Vorsitzender für das Forum Juden Christen. Der Wortlaut der Ansprache wird im Folgenden veröffentlicht.

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, liebe ältere und jüngere Mitbürgerinnen und Mitbürger Lingens,

sehr herzlich möchte ich Sie wieder willkommen heißen zur Gedenkfeier vom Forum Juden-Christen im Altkreis Lingen und der Stadt Lingen zum 9. November 1938, der „Reichspogromnacht“. Besonders freuen wir uns, dass auch in diesem Jahr wieder eine ganze Reihe Jugendlicher dabei sind – m.W. vom Stadtjugendring, vom Kinder- und Jugendparlament und von den Berufsbildenden Schulen. Das macht Mut – besonders den Älteren unter uns.

Jeder und jedem der hier Anwesenden ist hinlänglich bekannt, dass in der Nacht zum 9. November 1938 überall im damaligen Deutschen Reich, und zwar auf Befehl Hitlers, die Synagogen in Brand gesteckt wurden, und dass es auch den hilfswilligen Feuerwehrleuten untersagt war, mit ihren Wehren gegen das unermessliche Flammenmeer vorzugehen. Das Naziregime wollte seinen ungeheuerlichen Frevel an den jüdischen Gotteshäusern in Deutschland ausdrücklich als Racheakt verstanden wissen, wobei man wissen muss, dass es zwar für Strafe und Sühne, nie aber für Rache, noch dazu solchen Ausmaßes, einen auch nur halbwegs vernünftigen Grund geben kann. Tatsächlich ging es den Machthabern des Hitlerregimes allein um einen weiteren und diesmal spektakulären Schlag gegen die Juden in Deutschland, nachdem beinahe allen von ihnen in den Jahren davor schon ihre Rechte als Staatsbürger aus dem einzigen Grund, dass sie Juden seien, aberkannt worden waren. Die „Reichspogromnacht“ kennzeichnete auf furchtbare Weise den Anfang vom Ende jüdischen Lebens in Deutschland und in jenen Staaten Europas, deren sich die Hitlerarmeen mit der nachrückenden SS im späteren Krieg bemächtigt hatten. Am Ende waren es 6 Millionen jüdische Menschen, die der NS-Staat gemäß der Logistik von Mordfabriken umbringen ließ.

Der Rassenwahn war es, der die Nazis in fanatischer Weise zu ihren Untaten antrieb: die aberwitzige, nie plausible Idee von der Minderwertigkeit der Juden, die man zu einer Rasse und zu Schädlingen des sogenannten gesunden arisch-deutschen Volkskörpers bestimmt hatte, und zwar mit Hilfe ebenso willfähriger wie beschränkter Mediziner und Erbbiologen. Menschenrechte, die es, auch wenn sie erst nach der furchtbaren menschlichen und moralischen Katastrophe des Holocaust, der Shoah, aufgeschrieben wurden, schon immer gegeben hatte, leiten ihren Anspruch, nämlich die Achtung der Menschenwürde, indessen nicht von der Hautfarbe, der Begabung, der Rasse oder ethnischen Abstammung ab, und auch nicht von Alter, Geschlecht, Krankheit, Behinderung oder Migrationshintergrund, sondern allein von der Schuldigkeit jedes Staats und seiner Gesellschaft gegenüber jedem Menschen und jedem Bürger, für den und auf den hin jede freie und humane Gesellschaft mit ihrer staatlichen Ordnung verfasst ist: Die Gewährleistung der Menschenrechte zur Gewährleistung der Menschenwürde ist somit nicht mehr, aber auch nicht weniger als des Staates Schuldigkeit gegenüber jedem seiner Bürgerinnen und Bürger und keineswegs eine Gnade, die uns nach Gutdünken der Regierenden zuteil wird oder nicht.

Dies ist übrigens  ein Grund, warum auch NSU-Leute zurückschauen sollten und des Unheils gedenken und befinden, dass nur das Konzept der wechselseitigen Achtung vor der Menschenwürde des jeweils anderen sie selbst davor bewahrt, zwischen die Mahlsteine einer Menschenwürdedebatte zu geraten und dabei nicht nur politischen, sondern auch physischen Schaden zu nehmen. Denn an der Hand, mit deren einem Finger sie auf die anderen zeigen, sind vier weitere Finger, die auf sie selbst weisen. Nur die wechselseitige Achtung jedes, aber auch wirklich jedes Menschen aufgrund seiner, mindestens schon aus staatlichen Rechten resultierenden Menschenwürde, nicht zu reden von der Menschenwürdebegründung Immanuel Kants und der Gottesebenbildlichkeit, die Christen sich und gewiss auch allen anderen Menschen aus ihrem Glauben zuschreiben, NUR solche wechselseitige Achtung kann Frieden schaffen und die Befriedung einer Gesellschaft leisten. Auch wird damit klar, dass ein Staat dann schon die Axt an die Wurzeln seiner Glaubwürdigkeit und seiner eigenen Humanitätskultur legt, wenn er wie Hitler und seine zahllosen Mordgesellen sich berufen und auch berechtigt fühlen würde, einzelne Menschen und Gruppen aus ihrem existenziellen Menschenwürdeanspruch auszugrenzen und sie dessen zu berauben – egal aus welchen Gründen.

Judentum ist eine Religions- und Kulturgemeinschaft und ohnehin nie einer Rasse gleich gewesen. Würden wir aber billigen, dass unsere Bewertungen anderer Menschen, Völker, Rassen an die Stelle ihrer Menschenwürde und der dieser dienenden Menschenrechte träten, dann hätte es in den USA nie einen Präsidenten Barack Obama und in Südafrika nie einen Nelson Mandela geben können, beide übrigens Träger des Friedensnobelpreises. Und wer kann das vernünftigerweise wollen bzw. nicht wollen?

Meine Damen und Herren, wir wollen gedenken und zu diesem Gedenken auch  die Ansprache unseres Oberbürgermeisters hören und wir wollen singen und wir wollen als Zeichen unseres Gedenkens einen Kranz beim Synagogengedenkstein niederlegen und wir wollen dann zusammen mit Gertrud Anne Scherger zur Schlachterstrasse 12 gehen, wo sich der Stolperstein, ein Gedenkstein also auch, für Max Hanauer befindet, der in einem sogenannten Vorzugsghetto für altgewordene Juden, im KZ Theresienstadt nämlich, umgekommen ist. Ich lade Sie dazu entsprechend Ihren Möglichkeiten am Ende unserer Feier HIER herzlich ein, und ich danke Ihnen für Ihre Geduld.

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