Der Vorsitzende des Forum Juden Christen Dr. Heribert Lange hat bei den Gedenkfeiern in Lengerich und Lingen am 9. November 2015 aus Anlass der Erinnerung an den Judenpogrom vom 9./10. November 1938 eine Ansprache gehalten, deren Wortlaut hier dokumentiert wird.

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Liebe Lingenerinnen und Lingener, sehr geehrte Damen und Herren, (Liebe Bürgerinnen und Bürger von Lengerich) gerne möchte ich Ihnen zunächst dafür danken, dass Sie auch in diesem Jahr wieder zum Gedenken an die Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 hierhergekommen sind, ganz besonders den noch jüngeren Menschen, mit denen wir unsere Hoffnung verbinden, dass sie die Erinnerung, auch die mahnende Erinnerung an die Geschichte der Shoah eines Tages weitertragen und sie bewahren. In dieser Novembernacht 1938 wurden beinahe überall in Deutschland die Synagogen, jüdischen Bethäuser und andere jüdische Einrichtungen in Brand gesteckt. Es hat sich inzwischen herumgesprochen und steht inzwischen auch in allen einschlägigen Geschichtsbüchern, dass dieses Flammenmeer über Deutschland den Beginn der Shoah bedeutete, also der geplanten und fabrikmäßigen Ermordung der Juden Deutschlands und Europas. Und es ist ebenfalls bekannt, dass die jüdischen Opfer der Nazis, die in den Gaskammern oder auf andere grausame Weise ermordet und in den Feueröfen der KZ verbrannt wurden, in Millionen zählen – genau gesagt sechs Millionen, vielleicht noch mehr. Und immer noch und immer weiter kommen wir Jahr für Jahr wieder, beileibe nicht(!) immer schon seit dem Kriegsende, hier zusammen, um daran zu erinnern – gewiss ja auch, um der Ermordeten zu gedenken, an die sich der eine oder die andere von Ihnen vielleicht noch erinnern kann. Ja, wir wollen, dass ihre Würde, ihre Ehre und ihr Antlitz vor uns wiedererstehen, damit auch dieses nicht in Vergessenheit gerät: dass sie nämlich Menschen waren. Menschen mit derselben Würde und denselben Rechten, also Menschenrechten oder Grundrechten, wie Sie und ich. Ist es nicht aber fragwürdig, daran Jahr für Jahr und immer mit demselben oder einem ähnlichen Ritual zu erinnern? – wurde ich neulich gefragt. Es müsse doch endlich einmal Schluss sein damit, und die Nazi-Geschichte sei ja Gott sei Dank seit sieben Jahrzehnten zu Ende. Fragwürdig? Ja, fragwürdig ist es in der Tat, denn es ist würdig der Frage, der Nachfrage, und auch würdig der Nachfrage nach der gesellschaftlichen Bedeutung eines derartigen Rituals, und ebenso der Frage nach seiner bewusstseinsprägenden Bedeutung für die Menschen, und dabei an vorderster Stelle ihrer Gewissen. Ich kann eine solche Nachfrage, zumindest nach einer Weile des Nachdenkens, nur ernst nehmen – SEHR ernst: Denn auch heute zündeln sie wieder, nicht gleich Synagogen, aber Flüchtlingsheime, mancherorts reihenweise, und richten damit ihre ganze Abneigung und gewiss auch Hass gegen Menschen, die sie nicht einmal kennen, und deren einzigen Makel, wenn es denn ein solcher wäre, ihre Fremdheit nämlich. Aber ist Fremdheit denn wohl nichts anderes und nicht mehr als die Wahrnehmung der Verschiedenheit der Menschen – gewiss auch wohl einer bis dahin unbekannten Verschiedenheit? Und gibt es, wenn das so ist, irgendeinen Grund, sich über sie zu erheben, wenn sie verschieden sind von uns, aber doch Menschen eben wie wir? Meine Damen und Herren, die Manier und der Anspruch, sich über andere Menschen zu erheben, sie gar für minderwertig zu erklären und sich damit von seiner gesellschaftlichen Verpflichtung für das Miteinder aller Menschen in einer Gesellschaft zu verabschieden, ist das ideologische Kalkül der Faschisten, die überall in Europa, nicht weniger bei uns, wie Gespenster der Nazis aus der Deckung kommen – umso mehr, je größer die Flüchtlingsströme werden. Es ist ihr Trick, sich der, in einer staatlichen Gemeinschaft für alle gültigen Verpflichtung zur Solidarität und des Respekts vor der Würde des Nächsten, der Menschenwürde eines jeden, zu entziehen und damit zugleich der gemeinsamen Verantwortung für das Ganze. Bezeichnenderweise ist die Sprache immer noch dieselbe geblieben wie damals: Judensau oder Judenarsch sind umgangssprachliche Begriffe zur Bezeichnung missliebiger Schulkameraden geworden – ganz egal ob sie jüdischen, christlichen, islamischen Glaubens sind und ebenso gelten „Ungeziefer“ und „Schmarotzer“ als Oberbegriffe zur Charakterisierung von Flüchtlingen und Migranten, Menschen also, die hierherkommen, weil sie der Bedrohung ihres Lebens und des Lebens ihrer Familien entkommen wollten. ABER: Auch für die Brunnenvergifter und Rattenfänger rechter Couleur oder aus der Ecke der Islamisten gilt, ebenso übrigens wie für uns alle, der Satz aus dem Koran: „Niemand von Euch hat den Glauben erlangt, solange er nicht für seine Brüder liebt, was er für sich selbst liebt“. Erkennen wir in diesem Satz nicht sogleich wieder, was auch das Gesetz der Juden ist und im 3. Buch Mose, dem 18. Kapitel, Vers 18 so steht? „…, [sondern] Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst“. Und: sogar wörtlich genauso lautet der entsprechende Vers in der christlichen Bibel nach Matthäus, 12, 31. Der englische Staatsphilosoph Thomas Hobbes, der im 17. Jahrhundert lebte, ist bei seinen Überlegungen, wie es denn gelingen könne, eine befriedete und friedliche staatliche Gesellschaft zu schaffen, von seiner eigenen Vorstellung des Urzustands menschlicher Gesellschaften ausgegangen und beschrieb diesen als „Krieg aller gegen alle“. Um zu einem Ende dieses kriegerischen und verteufelten Gesellschaftszustands zu kommen, schlug er vor, dass die Bürger ihre eigene Macht und ihre Machtmöglichkeiten an den Staat als dem Hüter des Gewaltmonopols abtreten und im Gegenzug dafür mit der Garantie ihrer Sicherheit durch den Staat rechnen dürfen. Etwa so funktioniert Gesellschaft heute beinahe in allen freiheitlichen staatlichen Systemen – aber längst nicht immer sonderlich GUT. Waren da die eben zitierten Religionen und ihre Stifter 1 000 und 2 000 Jahre früher als Hobbes nicht wohl klüger als dieser, als sie die LIEBE, wir würden heute sicher sagen wollen, die Achtung voreinander, zum obersten Prinzip erklärten und damit das weitere Prinzip eines friedlichen Miteinanders und vor allem Füreinanders? Und finden Sie nicht auch, dass man aus den Erfahrungen der Geschichte, nicht nur der jüngsten Geschichte, keinen anderen Schluss ziehen kann als den, dass der Mensch erstens ohne das Du und den und die Anderen zum Scheitern seines Lebens verurteilt ist, und zweitens das Gegeneinander der Menschen am Ende auch ihre Vernichtung bedeutet? – Mit anderen Worten: Kann es überhaupt ein rationales Kalkül für Ausgrenzung, Hass und Anfeindung oder Angriff gegen andere Menschen hier oder sonst in der Welt – noch dazu mit dem Ziel der Befriedung ihrer Gesellschaften – geben? Meine Antwort auf diese Frage ist ein klares und sehr entschiedenes NEIN und meine Appell an den Bürgersinn der Lingenerinnen und Lingener lautet: „Wehret den Anfängen!“ Lassen Sie mich bitte abschließend, und anschließend an diese Überlegungen, nun auch noch einmal zurückkommen auf die Frage nach der Fragwürdigkeit unserer Gedenkfeiern: Gedenken ist die uns noch verbliebene Möglichkeit, unseren Respekt vor den Mordopfern der Nazis, nicht nur der Juden, auch der Roma, der Homosexuellen und der missliebigen Neinsager, insbesondere der Sozialisten, Kommunisten und der Männer und Frauen der Kirchen zu bekunden, die die Bedeutung der Menschenwürde kannten und den Glauben an die Menschenrechte, über die wir soeben gesprochen haben, bereits hatten und von ihnen überzeugt waren, ehe diese in der UNO-Charta von 1948 aufgeschrieben wurden, um sodann beinahe weltweite Geltung zu erlangen. Erinnern aber müssen wir ebenfalls und immer weiter, weil uns die gegenwärtige, mindestens aufgeregte, wenn nicht hasserfüllte Debatte einmal mehr daran gemahnt, dass Geschichte nicht an sich und aus sich allein lebendig bleibt, und Lehren, die man aus ihr ziehen kann, sich dann vielleicht sogar als wegweisend erweisen, sondern immer nur dann, wenn wir den Menschen die Katastrophen vor Augen führen, die sie selbst mit ihren menschenverachtenden und ich-süchtigen Ideologien über ihr eigenes Geschlecht gebreitet haben. Ich danke Ihnen für Ihre freundliche Geduld!

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