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Grabstein für Jeanette Herz wird am nächsten Donnerstag enthüllt – Auch Nichte aus England kommt

Lingen (pe)
In den vergangenen Maitagen fiel das wenige Sonnenlicht, das durch den dichten Blätterbewuchs auf dem jüdischen Friedhof in Lingen den Boden erreichte, auf ein Fundament am vorderen Rand des Friedhofes an der Weidestraße. Nächsten Donnerstag wird auf diesem Fundament ein Stein stehen, der an die Lingener Jüdin Jeanette Herz erinnert. ,,Möge ihre Seele eingebunden sein in das Bündel des Lebens”, heißt die hebräische Inschrift übersetzt.

Das Bündel des Lebens: Für Jeanette Herz, die am 30. März 1875 als zweite Tochter der Eheleute Hermann und Elise Herz, geborene Meyer, in Lingen zur Welt kam, war die Wilhelmstraße der Ort, wo dieses Lebensbündel täglich mit Erlebnissen neu verschnürt wurde. Wie Anne Scherger vom Forum Juden-Christen berichtet, wuchs Jeanette wie ihre neun Geschwister im Haus mit der Nr. 21 auf. 1881 wurde sie in der Jüdischen Schule eingeschult. Nach dem Ende der Schulzeit blieb sie im elterlichen Haus, das Wohn- und Geschäftshaus (Schlachterladen) zugleich war. Sie half ihrer Mutter bis zu ihrem Tod im Jahre 1922. Dann führte sie den Haushalt allein, bediente auch im Laden und pflegte ihren Vater, der 1933 im Alter von 82 Jahren starb.

Fast 70 Jahre später: eine ältere Frau aus England ruft im Frühjahr 2000 bei Anne Scherger an. Es ist Lilo Duschinsky-Nathan, inzwischen 80 Jahre alt und eine Nichte von Jeanette Herz. Sie wolle gerne den jüdischen Friedhof in Lingen besuchen, sagt die Dame am Telefon. In einem später folgenden Brief fragt sie Anne Scherger, ob es eigentlich noch Almut Nolte gebe. Die sei in den Jugendjahren ihre beste Freundin gewesen.

Zurück in die Vergangenheit, in die Wilhelmstraße Anfang der 30-er Jahre. Tante Netty, wie sie alle nennen, ist überall ein gern gesehener Gast. Engere Kontakte bestehen vor allem zu den Wiardas in der gleichen Straße und der Familie Nolte in der Raydtstraße. Und im Sommer ist besonders viel los in der Nachbarschaft. In den Ferien reist regelmäßig Nichte Lilo Nathan aus Wuppertal an, um ihre Tante zu besuchen. Lilos beste Freundin ist Almut Nolte. Mit ihr spielt sie Schlagball auf der Wilhelmstraße oder Verstecken in Tantes Garten, der bis an den Stadtgraben heranreicht.

Unbeschwerte Sommertage verbringt sie Jahr für Jahr in Lingen bei ihrer Tante und der Freundin. 1938 reist Lilo Nathan als Au-pair-Mädchen nach England. Wie Bernhard Grünberg, jüdischer Ehrenbürger der Stadt Lingen, entkommt sie dadurch dem Holocaust. Ihre Eltern werden Lilo per Brief wohl noch über den Tod der Tante in Lingen informiert haben, die am 14. November 1941 starb – vier Wochen vor der Deportation der meisten Lingener und emsländischen Juden nach Riga. Auch Lilos Mutter Clara, eine Schwester von Jeanette Herz, zählt zu den Opfern des Naziregimes. Zusammen mit 1000 anderen Menschen jüdischen Glaubens wurde sie in das polnische Durchgangslager Izbica verschleppt und dort ermordet.

Kurze Zeit, nachdem Jeanette Herz auf dem jüdischen Friedhof neben ihren Eltern Hermann und Elise begraben worden war, gab es in ihrer Familie niemanden mehr, der einen Stein auf ihr Grab hätte setzen können. Zweien gelang die Emigration, die anderen gerieten in die Fänge der Nazis.

Pfingsten im Jahr 2000: Lilo Duschinsky-Nathan kommt erstmals nach dem Krieg wieder zu Besuch nach Lingen. Gemeinsam geht sie mit Anne Scherger über den Jüdischen Friedhof. Beim anschließenden Kaffee sieht sie dann auch ihre Freundin aus Jugendtagen, Almut Nolte, wieder. Anne Scherger hat das Treffen organisiert. Tränen fließen an diesem Nachmittag, aber die unbeschwerten Sommertage in der Wilhelmstraße und der Umgebung von Lingen rufen auch viele fröhliche Erinnerungen hervor. Frau Duschinsky äußert gegenüber Anne Scherger den Wunsch, ob für ihre Tante auf dem Friedhof ein Grabstein errichtet werden könne – neben dem der Eltern.

Der Lingener Heimatverein hat den Wunsch aufgegriffen und maßgeblich zur Finanzierung des Steins beigetragen. Auch die Stadt Lingen unterstützte das Vorhaben. Am nächsten Donnerstag findet eine Gedenkfeier auf dem Friedhof an der Weidestraße in Anwesenheit von Frau Duschinsky statt. Neben dem Grabstein für Jeanette Herz aus der Wilhelmstraße 21, die alle nur Netty nannten.

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